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Wenn es einen Preis für den poetischsten Film des Wettbewerbs gäbe, dann müsste ihn eindeutig (Stand: heute) „Bal - Honig“ des türkischen Filmemachers Semih Kaplanoglu bekommen. Der Film entführt uns in eine andere Welt, irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit, in der das Rauschen der Blätter, das Knacken eines Astes oder die Spiegelung des Mondes in einem Wassereimer Ereignisse sind, die uns genauso in den Bann ziehen, wie die heißeste Actionszene in einem Thriller. Ein kleiner Junge namens Yusuf ist hier die Hauptfigur – und aus seiner Perspektive verfolgen wir staunend, wie schrecklich und wunderbar zugleich die Welt sein kann, wenn man sechs Jahre alt ist, Angst davor hat, vor der Klasse laut vorzulesen, in einem Holzhaus mitten in einem Wald mit riesigen Bäumen lebt, und wenn man einen Vater hat, der auf diese riesigen Bäume klettert, um dort den wertvollen schwarzen Honig zu finden.
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Zu The Thin Red Line gab der Kurator der der Geburtstags-Retrospektive David Thomson nicht nur eine brillante Einführung (man kann dem Mann stundenlang zuhören wenn, er über Film spricht. Mein Gott, er war mit Terrence Malick essen!) sondern verkündete auch Niederschmetterndes: Offensichtlich wäre Malicks neuer Film The Tree of Life mit Sean Penn und Brad Pitt auf der Berlinale gelaufen, wenn sich die Postproduktion nicht verzögert hätte. Wenn man bedenkt, dass Malick seit in den letzten 41 Jahren nur fünf Filme gemacht hat und The Tree of Life eben Nummer 6 ist, ist das wirklich unfassbares Pech. This really pisses me off! Und wir regen uns über das Wetter auf.

Allzu schöne Menschen…
Der Fahrer mit breitem Kinn sieht gut aus und schweigt. Die Kleine ist wild und hübsch mit franzosenmäßiger Zahnlücke, der Bruder ein schöner Lockenkopf mit sensiblen Augen und der vierte Mitfahrer so ein selbstbewusster Skatertyp mit langen Haaren. Alle sehen also super aus, ziehen ihre T-Shirts ständig aus, aalen sich am Strand und es passiert, was passieren muss. Schweiger und Lockenkopf sowie Skater und Schwesterchen machen es. Es ist schließlich Sommer. Ach ja eine Pistole ist ganz Godard mäßig früh im Bild, um Spannung zu schaffen und es gibt Rückblenden in die Kindheit, um die Verschwiegenheit des Fahrers, die eigenartige sexuelle Spannung zwischen Bruder und Schwester zu erklären (nur der Skatertyp bleibt seltsamerweise ausgespart, ist eh nur Mittel zu Zweck). Diese vier sind unterwegs gen Süden, machen zwischendurch Station beim Bruder Fahrers, der eigentlich zu seiner Mutter will, um sie wegen des Selbstmords des Vaters (mit eben der Pistole) zu konfrontieren.
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Waste Land von Lucy Walker hat den Panorama-Publikumspreis gewonnen. Der Film begleitet den brasillianischen Künstler Vik Muniz, bei einem seiner aufwendigsten Projekte: Einer Installation im "Jardim Gramacho". "Jardim Gramacho" liegt in einem armen Außenbezirk von Rio de Janeiro und ist eine der größten Mülldeponien der Welt: Die Menschen dort leben vom Müll, den sie sammeln undauf die unterschiedlichste Art wiederverwenden. Muniz hat die sogenannten Pflücker in sein Kunstprojekt einbezogen.
Lucy Walker hat schon 2007 mit Blindsight den Panorama-Publikumspreis gewonnen.



Es ist wieder so weit...die Verleihung der Goldbärchen findet heute Abend im Berlinale Palast statt. Zeit für Wetten auf Gewinner und Verlierer der Jubiläums-Berlinale sowie eine erste Rückschau. Please comment.

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Ausgebacken
Ditte stammt aus einer alten dänischen Familie die über Generationen ein Bäckereiimperium aufgebaut hat. Sie ist der Liebling ihres Vaters, dem Chef der Betriebes, selbst Galeristin und bekommt ein Jobangebot für New York. Am gleichen Tag stellt sie fest, sie ist schwanger von ihrem Freund, einem Künstler. Das ist die Ausgangsposition. Dann erfahren wir noch, dass ihr Vater gerade eine Krebstherapie überstanden hat, aber nun als geheilt gilt. Ditte entscheidet das Kind abzutreiben, N.Y. mit ihrem Freund soll die Zukunft sein. Es gibt noch eine Schwester und zwei deutlich jüngere Halbgeschwister, weil ihr Vater nochmals heiratet. Eine Patchworkfamilie, die offenbar leidlich funktioniert, so richtig erfährt man das nicht. Alles normal, bis Vattern doch wieder Metastasen hat und diesmal nur auf sein Ende warten kann.
Continue reading "En Familie (Eine Familie) von Pernille Fischer Christensen" »

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Was passiert, wenn der Mann, den du liebst, plötzlich zum fundamentalistischen Moslem mutiert? Wenn die Nähe und Gemeinsamkeit, die bislang die Beziehung zu einer glücklichen machte, in Frage gestellt wird von anderen Wertvorstellungen, einer anderen Art zu denken und die Welt zu beurteilen? Jasmila Žbanić, vor drei Jahren Gewinnerin des Goldenen Bären für „Grbavica – Esmas Geheimnis“, verortet diese Geschichte in Bosnien und erzählt sie aus der Perspektive der Frau. Entstanden ist ein Film, der klar Stellung bezieht und starke Momente hat, alles in allem aber erstaunlich brav daherkommt.

Ohne jeden Erfindergeist
Eine wie in Reihe gefertigte amerikanische Komödie mit einem Star in der Hauptrolle, glatt, mit vorhersehbaren Entwicklungen und nahe liegenden Konflikten und Charakteren, die alle wie aus einem Handbuch des Drehbuchschreibens entnommen scheinen: die esoterisch, etwas dämliche Exfrau mit nettem neuen Mann, der zum Gefährten des Helden wird, die superhübsche Tochter, die in einer Frauen WG lebt, in der Papa, gescheiterter und verfemter Unternehmer, einzieht und mit der lesbischen Mitbewohnerin erst Probleme hat, die dann natürlich zur Kumpel-Freundin wird.
Axle scheitert dramaturgiegerecht zunächst beim Job im Supermarkt, weil er dazu gemacht ist, den amerikanischen Traum zu leben und ganz allein und selbständig Großes zu vollbringen - nur diesmal wird er dabei seine Familie und vor allem seine Tochter nicht vergessen. Kennt man das nicht so oder ähnlich...?

Amar und Luna sind ein schönes, sehr verliebtes junges Paar, das in Sarajewo lebt. Sie arbeitet als Flugbegleiterin, er als Fluglotse. Sie scheinen ihr Leben und ihre Liebe intensiv zu genießen und wünschen sich ein gemeinsames Kind. Erst als Amar von seinem Job suspendiert wird, weil er während der Arbeit Alkohol getrunken hat, beginnt die heile Fassade zu bröckeln.

Puzzle legen und Malen nach Zahlen besetzen seit meiner Kindheit einen festen Platz auf der Top-Five-Liste der langweiligsten Freizeitbeschäftigungen, und ich erinnere mich noch gut an meine Versuche, durch den Einsatz einer kleinen Schere die nervtötende Prozedur abzukürzen. Es war daher kein Wunder, dass mich bereits beim Durchlesen der Inhaltsbeschreibung zu Natalia Smirnoffs Film ein leises Unbehagen beschlich.
Continue reading "Rompecabezas (Puzzle) von Natalia Smirnoff " »

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An einem unerwartet warmen Februarmorgen mit Tauwasser und vorsichtigen Sonnenstrahlen durch Berlin zum Kino zu laufen, erfüllt mit allerersten Frühlingsahnungen und Aufbruchstimmung. Vielleicht ist das ein Grund, aus dem mich dann Berlin Ecke Schönhauser so berührt; die Hoffnungen und Sehnsüchte, die die Hauptfiguren dieses Filmes treibt, ihr Trotz und Schwung und die Zuversicht, mit der der Held am Ende auf die Zukunft blickt. Berlin Ecke Schönhauser ist ein Film über das Beginnen und die Hoffnung, aus einer Zeit, in der Regisseur, Drehbuchautor und sicherlich auch der Großteil der Schauspieler sich trotz aller Probleme viel versprachen von der noch jungen DDR. Drehbuchtautor Wolfgang Kohlhaase sagt dazu, er habe die DDR damals für einen sauren, den Westen aber für einen faulen Apfel gehalten.
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Ich bin's nicht, Adolf Hitler ist's gewesen
Endlich mal kein wohlwollender oder gleichgültiger Applaus nach der Vorführung, sondern schon während und dann nach dem Film Buhrufe und empörtes Gekeife. Da ist endlich mal abseits von Gefallsucht, Mainstream und gewohnter Autorenfilm Sprödigkeit ein Werk auf Widerstand und Wut getroffen. Ich fand ihn gelungen.
Kurz gesagt nimmt der Film sich alle künstlerischen Freiheiten die Geschichte von Ferdinand Marian zu erzählen, Hauptdarsteller in Jud Süß, dem wohl gelungensten, weil subtilsten Propagandafilm des Dritten Reichs. Roehlers Film, mit Tobias Moretti und Moritz Bleibtreu in den Hauptrollen, erzählt über die Verführbarkeit jedes Einzelnen, wenn man ihn mit Ruhm, Ansehen und Geld lockt - unabhängig von Regime und Zeit. Auch ein Film über die Filmindustrie der Nazis, die es mit Amerika aufnehmen wollte und dabei trotzdem ideologietreue Filme fabrizierte.
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Mein Taxifahrer ist genervt. Nicht nur von der hupenden und hetzenden Meute hinter ihm. Ihn nervt vor allem, dass er als ausgebildeter Ingenieur Taxifahren muss. Er hat dies schon zu Studienzeiten gemacht, doch inzwischen ist das etwas anderes. Seine Erwartungen und auch die Erwartungen der Gesellschaft an sein Leben haben sich geändert. Oft ist es nicht die Situation an sich, die sie unerträglich macht, sondern die Fallhöhe, aus der man in sie gelangt. Das verbindet meinen Taxifahrer mit Greta aus Tatjana Turanskyjs Debütfilm Eine flexible Frau.
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Der Feind in meinem Bett
Vier junge Menschen Anfang 20 driften durch ihr Leben, mit oder ohne Job, Freundin, Plan oder Antrieb. Dazu gibt es einen Serienmörder, über den zwischen Soap Operas im Fernsehen berichtet wird. Nebenan wohnt ein Hellseher, den man für eine Puffmutter hält und ansonsten wird viel über nichts geredet und dazu getrunken. Was Studenten und junge Menschen eben so tun und denken. In Tokyo oder sonstwo. Dann kommt ein blondierter Stricher in die WG und erst weiß keiner, wer ihn mitgebracht hat, dann ist aller Freund und Kummerkasten, Nacktmodell und kleiner Bruder.
Regisseur Yukisada interessierten - wie er vor der Vorführung sagte - die Reaktion junger Leute hier in Europa auf seinen Film. Kennen sie das? Sicher tun sie. So what? Den Dreh ins Abstruse, wenn der WG-Hauptmieter und einzige mit Job und Karriere der Killer im silbernen Space Anzug ist und all wussten es schon lang, aber dachten sich: egal, jeder macht halt SEIN Ding. Das nimmt einen alles nicht mit. Oder bin ich auch schon abgestumpft?

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Das ZDF sendet in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag in heute nacht um 00.20 Uhr einen Beitrag über festivalblog. Wer nicht solange aufbleiben kann: der Beitrag bleibt noch eine Woche in der ZDF Mediathek online abrufbar.

Schuld und Sühne
Berlin Kreuzberg ist der Ort, aber der Film hätte bis auf die Großstadtfluchtmöglichkeiten auch in einem bayerischen Dorf spielen können, wo jeder jeden kennt und die Kirche und der Katholizismus noch eine wichtigere Rolle spielen. Schuldgefühle, die Religion den Menschen auflegt, wenn sie Regeln brechen und tun, was sie fühlen oder einen Fehler gemacht haben, quält diese Figuren. Aber eigentlich quälen sie sich selbst. Es geht um drei junge Menschen, die in Konflikt mit vermeintlichen Zwängen ihrer Religion, dem Islam, geraten und - aus sich selbst heraus, nicht durch Druck der Gemeinschaft - meinen mit Gott in Konflikt geraten zu sein.
Die junge Maryam, Tochter eines liberalen Imans, hat eine Abtreibung hinter sich und in einer Mischung aus Schuld und Nebenwirkung der Medikamente beginnt sie Zeichen der drohenden, persönlichen Apokalypse zu sehen. Der Polizist Ismail hat aus Versehen einen Jungen erschossen und fühlt sich zwischen Schuld gegenüber der bosnischen Mutter und seiner eigenen Familie hin und hergerissen. Samir, der bis dato selbstverständlich und gelassen seinen Glauben lebte, entdeckt, dass er offenbar homosexuell ist. Das ängstigt ihn und er glaubt wie alle anderen drei Protagonisten: Wenn es Gott gibt, kann er das nicht gewollt haben.

Wieviel Grausamkeit kann ein Mensch ertragen bevor er zurückschlägt? Wann zerreißt die innere Spannung? Das sind uralte Fragen, auch im Kino, aber selten habe ich sie so konzentriert und konsequent auf der Leinwand gesehen wie in „Shekarchi“ – The Hunter des iranischen Regisseurs Rafi Pitts. Der Film spielt in Teheran kurz vor den Wahlen im Jahr 2009. Ali, die Hauptfigur (gespielt von Pitts selbst), lebt bereits vor der Katastrophe, die als Initialzündung für den Film funktioniert, unter ständiger Anspannung. Mit wenigen Szenen gelingt es Pitts, diese Spannung aufzubauen, ohne die der weitere Verlauf der Geschichte nicht nachvollziehbar wäre. Das Faszinierende dabei: Er psychologisiert nicht, er erklärt nicht, er zeigt nur: und trotzdem, oder gerade deshalb, ist man als Zuschauer von Anfang bis Ende von dieser Figur und ihrer Geschichte gebannt.
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Täglich nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein und sich dabei trotzdem als richtig guter Mensch fühlen, dass ist das Lebensdilemma der New Yorkerin Kate. Nicole Holofcener stellt in ihrem außer Konkurrenz laufenden Wettbewerbsbeitrag eine nach außen hin durchaus sympathische New Yorker Vintage-Möbelhändlerin in den Mittelpunkt, die es mit dem Aufkaufen von Möbeln gerade Verstorbener und dem Weiterverkauf dieser Stücke zu horrenden Preisen zu Wohlstand gebracht hat.

...und der Väter Väter Väter Väter (Monty Python, Life of Brian)
So ehrlich muss Dokumentarfilm sein. So tief und erhellend und mutig kann er sein. Der junge, hochsympathische Regisseur und „Darsteller“ Jan Raiber beschloss, seinen ersten Film über die Suche nach seinem leiblichen Vater zu machen. Er offenbart die Idee zunächst seinen Geschwistern. Sein Bruder ist schockiert, weil er dachte, sein Vater sei auch Jans Vater "krass, krass" kann er immer nur sagen; die Schwester wusste um die Halbbruderschaft, hat aber immer geschwiegen. Mama und Papa ahnen was, als Jan von seinem Filmprojekt erzähllt, und unterstützen ihn bald in aller Ehrlichkeit, Befangenheit, Scham, begleitet von eigenen Ängsten und verdrängten Konflikten.
Alle meine Väter ist ein Film über das Paradox, dass es am allerschwierigsten ist, mit den Leuten über etwas sehr persönliches zu sprechen, die einem am nächsten stehen: der eigenen Familie.

Die Säge an den Stamm gesetzt
Wagner in voller Lautstärke zum Aufwachen ist nicht jedermanns Sache. Der 77 Jährige Frédérick liebt es. Und er liebt den Baum, den er 1947 vor dem Haus gepflanzt hat. Sonst ist er was die Amerikaner einen „grumpy old fart“ nennen - wie es scheint.
Er hat ein aufgrund eines Schwurs ein lebenslanges Verhältnis zu Bäumen, und die Familie ist mit dem Holz zu Wohlstand gekommen. Alle Generationen nebst Angetrauten und Geschiedenen hat sich eingefunden, weil der älteste Sohn zu Grabe getragen wurde. Doch Frédérick war nicht dabei. Dem Fernbleiben folgt familientypisches Schweigen von einigen und Schimpfen von anderen. Der jüngere Sohn Guilliaume hat ein Alkoholproblem und auch eines mit seinem Vater, das an diesem Abend wieder ausbricht. Die Enkelin und Tochter des Toten mag ihren Opa, aber ist erschüttert, dass sie nicht traurig über den Tod ihres Vaters ist. Sie hatte zu ihm so wenig ein Verhältnis wie ihr Vater zu Frédérick. Das nur einer der Belege in diesem Film, wie Fähigkeiten und Unfähigkeiten an die nächste Generation weitergereicht werden. Und dann ist da noch Marianne, die Großmutter, die beschwichtigt und wartet - und mit Frédérick seit 50 Jahren ein Geheimnis hütet.
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Fußmatten und Klingelschilder auf denen die Besucher mit "Willkommen" begrüßt werden, sollten immer auch Anlass zur Skepsis geben, denn häufig ist der Besucher gerade in diesen Häusern nur begrenzt gerne gesehen. So verhält es sich auch bei den Rileys im neuen Film von Jake Scott. Trotz eines großflächigen entsprechend beschrifteten Klingelschildes leben die beiden Hausbewohner abgeschottet in ihrer eigenen Welt.



Rettenberger läuft, im Kreis, im Gefängnishof. Mit dieser Sequenz beginnt die Geschichte, aber für den ehemaligen Bankräuber ändert sich nicht viel, nachdem er das Gefängnis verlassen hat. Er bleibt ein Hamster in seinem Laufrad. In monotoner Folge trainiert er, gewinnt einen Marathon und raubt Banken aus. Weder für das Laufen noch für das Bankausrauben hat sich Rettenberger entschieden. Sie sind sein Instinkt.

Japan, Anfang der 40er Jahre. Eine junge Frau schreit: „Das ist nicht mein Mann! Das Ding da ist nicht mein Mann!“ „Das Ding“ ist ein junger Soldat, der als hoch dekorierter Veteran aus dem zweiten japanisch-chinesischen Krieg in sein kleines Dorf zurückkehrt – ohne Arme, ohne Beine, taub, sprachlos und mit von Brandwunden entstelltem Gesicht. Von der Ehefrau wird nun ganz selbstverständlich erwartet, dass sie sich aufopferungsvoll um den Kriegshelden kümmert und so die „Heimatfront“ stärkt. Nach dem ersten Schock stellt sich die Frau dieser Aufgabe dann auch.

Besouro heißt auf Portugiesisch Käfer. In einer Anfangssequenz zeigt der alte Caipoeira-Meister AlÃpio seinem Schüler einen pechschwarzen Käfer. „Die Wissenschaft ist überzeugt davon, dass er nicht fliegen kann“, sagt er, „aber das stimmt nicht“. Kaum kommt er ihm näher, fliegt der Käfer kraftvoll los.

Mann kommt nach zwölf Jahren aus dem Knast und muss wieder Fuß fassen. Das ganze spielt in Norwegen. Ich bin also schon voll auf hartes Sozialdrama eingestellt und versenke mich ergeben in meinem Kinosessel. Der Film beginnt, und das erste, was mich irritiert, ist die Musik: Lustig, leicht und beschwingt. Was in den folgenden 107 Minuten folgt, stellt so ziemlich jede Erwartung, die man in Bezug auf das Genre „Mann kommt aus dem Knast und muss wieder Fuß fassen“ hat, auf den Kopf. „En Gnaske Snill Mann“ – A Somewhat Gentle Man – von Hans Petter Moland hat einen schön schrägen Humor und eine Hauptfigur, die so gar nicht ins Klischee passt.
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Jeden Tag mindestens einer. Mein Pfadfinder Konto ist gut gefüllt, konnte schon drei Mal Gestürzten die Hand reichen, Sachen zusammensammeln, in verwirrte oder schmerzverzerrte Gesichter blicken und aufmunternde Worte sprechen: "Berlin ist super, oder?"
Die Eisplatten, der Schnee, der bucklige Mix aus beidem ist hochgefährlich für die ständig SMS-enden, telefonierenden, in Programmen blätternden und dabei sich eilig fortbewegenden Menschen rund um den Potsi. Dazu die geröteten Augen von zuviel Dunkelheit und zu wenig Schlaf. Einmal kam sogar der Krankenwagen, Platzwunde, die Italienerin verstand die Welt nicht mehr - von jetzt an nur noch Cannes!
Auffällig viele Menschen mit Krücken sind zudem unterwegs hier - oder seh ich schon Gespenster? Ein Kollege hat jedenfalls beim Apotheker in Potsdamer Platz Nähe mal gefragt, was denn im Moment am besten geht: die wenig überraschende Antwort: Aspirin und Potenzpillen. Wir müssen uns den Festivalgeher als glücklichen Menschen vorstellen.

Erinnerungs-Sauce
Ok, ich geb‘s gleich zu, nach 50 Minuten hatte ich genug. Mein erstes Filmflüchten dieser Festspiele. Aber was die Regisseure einem hier kredenzten war geschmacklose Erinnerungssauce ohne Erinnerungen aus erster Hand zu haben, weder gar noch bissfest. Eine wirrer Cut-up von Interviews, kunstmäßig daherkommenden Videoaufnahmen von einem Pool oder einer Treppe, dann Archivaufnahmen von einer Misswahl und Videoschnipsel aus Privat- oder Fernseharchiven. Eine mit schwerem deutschen Akzent sprechend Off-Stimme von einem nicht näher erläuterten "Hans" gibt dazu sinnlose, aber unheimlich gravitätisch daherkommende Kommentare zu Archivbildern von Sun City in Südafrika ab - einer Kunststadt wie Las Vegas, nur eben zu Apartheid Zeiten gebaut.
Als der inzwischen zu oft gehörte, dadurch nicht weniger falsche Vergleich zu Israel und Palästina gemacht wurde, und Hans, laut seiner Erzählung, als er den Vergleich begriff, darüber im Hotelzimmer weinte, war es genug für mich. So was passiert, wenn Kulturwissenschaftler Filme machen.
Was für eine prätentiöser, vierteldurchdachter, verkünstelter Film! Hier wurde versucht, Sans Soleil zu kopieren und eine Reflexion über Nicht-Orte zu klöppeln. Mehr ist es nicht.
(Und wenn mir jetzt einer erzählt, die zweite Hälfte des Films sei aber gaaaaanz anders gewesen, so reicht es trotzdem nicht)

Die Fremde ist der erste Film von Feo Aladag als Regisseurin und er ist ihr gleich rundherum gelungen. Aladag, die sich bisher als Schauspielerin und Drehbuchautorin einen Namen gemacht hat, hat sich einem sensiblen wie aktuellen Thema angenommen: dem "Ehrverbrechen" in der Einwanderungsgesellschaft. Bei so einem Thema kann viel schief gehen. Aladag und ihrem hervorragenden Cast gelingt es aber auf bemerkenswerte Weise, die unterschiedlichen Facetten in einem gesellschaftlichen Konflikt auszuleuchten.

Eine brandungsumtoste Gefängnisinsel mit psychisch kranken Schwerverbrechern, ein seelisch angeschlagener US-Marshal mit belastender Vergangenheit, Häftlinge, die auf mysteriöse Art und Weise aus ihren verschlossenen Zellen verschwinden, undurchschaubare Anstaltspsychater und grimmige Gefängniswächter, das waren eigentlich hervorragende Grundvoraussetzungen, um aus der Verfilmung des Romans von Dennis Lehane aus dem Jahre 2003 einen wirklich spannenden Psycho-Thriller, Horrorfilm oder auch Krimi zu machen.

Postapokalyptische Dreiecksbeziehung
Zwei wirklich schöne Sachen gibt es in dem Film: die Texte, die die Kapitel des Films einleiten und einige der stillen, sehr cinematographischen Aufnahmen von Gebäuden und eigenartigen Räumen in Casablanca. Ansonsten haben die beiden Regisseure in jedem Fall eine sehr eigenwillige Filmsprache und Filmstruktur für ihre Geschichte gefunden, die auf einer Erzählung Dostojewskis basiert. Auf der optischen Ebene ist der Film zunächst kraftvoll und individuell, aber nach einer Weile wirkt er ein wenig prätentiös und gewollt.
X arbeitet die ganze Zeit auf Pillen an irgendwelchen Texten, bekommt Halluzinationen, es herrscht ein Krieg zwischen irgendwem und der nicht näher bestimmt wird. Xs Freund Ney, zu dem X eine Art homoerotische Beziehung ohne Sex unterhält, macht nicht viel außer rauchen (das allerdings immer schön in Szene gesetzt) und läuft wie sein Freund in Clownsklamotten durch die Gegend. Über die Arbeit und seine große Liebe zu Lilli, eine schöne Französin und die Liebe zu seinen Freund, der ebenfalls Lilli liebt, wird X allmählich irre - das Ganze ist mal „lynchig“, dann an Shirin Nesfat erinnernd fotografiert, aber bleibt seltsam blutleer trotz der eingesetzten Bildgewalt.
Continue reading "The Man who sold the world von Swel&Imad Noury" »

Vier mal vier Stunden wegtauchen
Eigentlich eine ganz konventionelle Affäre begleiten wir von Anfang bis zum Ende in diesem Film des „Brot und Tulpen“ und „Agatha und der Sturm“ Regisseurs Silvio Soldini.
Mailand: Anna lebt mit ihrem gutmütigen, übergewichtigen Freund Alessio zusammen. Sie arbeitet in einem Büro in der Stadt, aber die beiden haben sich irgendwo weit außerhalb eine Wohnung gekauft. Als Annas Schwester ein Kind bekommt, fragt Alessio, ob sie nicht auch mal wollen, irgendwann. Ok, setzten wir halt die Pille ab. Sagt sie, macht‘s aber nicht. Und er macht auch nichts, außer abends im Bett Bücher zu lesen und einen ungemeinen Nestbautrieb zu entwickeln: er baut die Wohnung um, kauft Möbel und bastelt. Er kann gut Sachen reparieren, aber seine Freundin kriegt er offenbar nicht hin. Und wie als müsse sich Anna selbst testen, verabredet sie sich schon bald mit der Zufallsbekanntschaft Domenico, Gegenmodell ihres Freundes, ein „He-Man“, viril, muskulös, kantiges Kinn - und recht schlicht. Die Erfindung von SMS und Handy haben inzwischen Nebenbeziehungen um einiges leichter gemacht und nur die aufmerksamen Partner bemerken das "gesimse" oder die geflüsterten Gespräche zwischen Supermarktregalen. Allessio bemerkt sie nicht.
Continue reading "Cosa voglio piu - (Was will ich mehr) von Silvio Soldini" »


Mit „A Woman, a Gun and a Noodle-Shop“ hat Zhang Yimou eine Art Spaghetti-Western (Noodle-Shop!) auf Chinesisch gedreht, eine unterhaltsam-blutrünstige Geschichte um Gier und Feigheit, Verzweiflung und Arroganz, Mord und Totschlag. Chinas Vorzeige-Regisseur hat sich dabei von „Blood Simple“, dem Frühwerk der Coen-Brüder aus dem Jahr 1984, inspirieren lassen. Doch was bei den Coens eine Groteske mit Abgründen ist, gerät hier zur farbenprächtigen Farce ohne wirkliche Tiefe. Der Film hat trotzdem seine Reize: das Erzähltempo ist gekonnt rasant, die Geschichte ist rund, und Yimou besitzt auch für dieses schrillen Genre ein Gefühl für Stil. Vor allem aber ist der Film ein interessantes Vexierbild: Hier wird eine Parodie (Blood Simple) des (westlichen) Outlaw-Genres mit Figuren und Formen des asiatischen Kinos nochmals parodiert.
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Roger Greenberg ist ein ziemlich schwieriger Typ. Verklemmt, egozentrisch und latent aggressiv. Allerdings nicht von der Sorte Ruck-zuck-eins-auf-die Fresse, denn schließlich wird Roger Greenberg von Ben Stiller gespielt: Die Hiebe, die er austeilt, sind rein verbal. Nichtsdestotrotz fügen sie den Menschen, die Roger an sich herankommen lassen, nicht unerheblichen Schaden zu. Nach einem Nervenzusammenbruch will der 40-jährige Ex-Musiker und aktuelle Schreiner erst mal eine Auszeit nehmen und „nichts tun“. Er verlässt New York und quartiert sich bei seinem Bruder in Los Angeles ein. Der ist – natürlich! – erfolgreich, hat eine Frau, zwei Kinder nebst Hund (Mahler!), ein Haus mit Swimming Pool, eine nette Assistentin (Haushaltshilfe, Babysitterin, Gassigeherin und Mädchen für alles - Florence) und er verbringt seinen Urlaub in Vietnam. Als Dankeschön für den Unterschlupf soll Roger eine Hundehütte für Mahler bauen.

Alkohol. Gewalt. Verwahrlosung. Was passiert mit Kindern, die in einer solchen Umgebung aufwachsen? Welche Chancen haben sie, wie viel Kraft muss es kosten, die vorgelebten Muster nicht zu wiederholen? Thomas Vinterberg gibt mit seinem Brüderdrama „Submarino“ eine ziemlich schonungslose Antwort auf diese Fragen. Dabei gelingt ihm das beinahe Unmögliche: Die Geschichte von Nick und seinem Bruder wirkt realitätsnah, ohne als pädagogisches Lehrstück daherzukommen; der Film ist unglaublich hart und lässt doch ein winziges Fünkchen Hoffnung, ohne in den Sozialkitsch abzugleiten. Und: „Submarino“ setzt die narrativen Mittel des Kinos ein, ohne sein Gefühl für Geschichten, wie sie das Leben leider manchmal schreibt, zu korrumpieren.

Nichts lag näher, als Lothar Lambert und seinen neuesten Film zum 60. Geburtstag der Berlinale einzuladen. Lambert ist Berlinale. Er war bereits 16 Mal dabei. Seine Filme, die er unabhängig von den herrschenden Strukturen der Filmproduktion finanziert, gelten seit den 70ern als bekannteste Vertreter des deutschen "Untergrund Kinos" und tragen Titel wie Die Alptraumfrau, Blond bis aufs Blut oder Im tiefen Tal der Therapierten. Lamberts Werke verweigern sich dem Mainstream und sind immer wieder für einen kleinen Skandal gut. Für "Alle meine Stehaufmädchen - Von Frauen, die sich was trauen " gilt dies sicherlich nicht. Der Film ist ein Zusammenschnitt von Interviews mit 11 Frauen aus Lamberts näherem Umfeld. Darunter sind u. a. die Malerin Evelyn Sommerhoff, die Schauspielerin und Radiosprecherin Claudia Jakobshagen sowie das Berlinale Unikum Erika Rabau, die 1979 in Lamberts Tiergarten mitgespielt hat. Allen Frauen gemeinsam ist ein bewegtes Leben, in dem sie durch leidvolle Erfahrungen gelernt haben, ihr Ding durchzuziehen.
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Holocaust a la Hamilton
Der gigantische Garten, eher Park, der Finzi-Contini ist ein Garten Eden mit Tennisplatz. Dort treffen sich in den 30er Jahren die vom faschistischen Staat immer mehr ausgeschlossenen jungen Juden der Stadt Ferrara. Giorgio stammt aus einem bürgerlichen Haushalt und liebt Micòl, die Tochter derer von Finzi-Contini, einer sehr wohlhabende Familie Italiens. Seit Kindertagen kennen die beiden sich und Giorgios Hoffnung auch in diesen Zeiten der Diskriminierung und Ausgrenzung, seine Literaturstudien fortzusetzen und seine Liebe zu Micòl leben zu können scheitert am Ende. Allerdings weniger an den italienischen Rasse-Gesetzen, die denen in Deutschland gleichen, sondern einfach an den Gefühlen seiner Angebeteten, die ihn zurückweist, weil sie für ihn eher wie für einen Bruder fühlt.
Continue reading "Il Giardino dei Finzi-Conti (Der Garten der Finzi-Contini) von Vittorio de Sica" »

Nach Dear Pyongyang ist auch der neue Film von Yang Yong-hi dem Wunsch geschuldet, die eigene Biographie besser zu verstehen und die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen auszuloten, die quer durch ihre Familie laufen. Die in Japan lebende koreanische Regisseurin war als Kind von ihren regimetreuen Eltern streng nach nordkoreanischen Grundsätzen erzogen worden. Sie musste früh damit zurechtkommen, dass der Vater die drei Brüder nach Nordkorea schickte, weil er sich dort eine bessere Zukunft für sie erhoffte, während sie mit den Eltern in Japan zurückblieb und aufwuchs.
Continue reading "Sona, mo hitori no watashi (Sona, the other myself) von Yang Yong-hi" »

Von klugen Omas und schönen Enkeln
Ahhh - das Licht in Apulien, der Sommer, das Meer, die Mode, leidenschaftliche Frauen und Männer, die Altstadt mit Gassen und Säulen, die Pasta - Bella Italia totale. Dazu das Anwesen der angesehenen Familie Cantone voller verschrobener aber irgendwie liebenswerter Individuen: die kommandierende Mutter, die exzentrische Tante, der labernde Schwager, die dicken Enkel, die schlichten Haushaltshilfen, die weise aber rebellische „Nonna“ (Oma) - und zwei schwule Söhne. Was passt hier nicht ins Klischee? Genau. Und weil der eine Bruder, dem anderen bei einem festlichen Abendessen mit seinem Coming Out zuvor kommt, Papa ausflippt und einen Herzinfarkt erleidet und den Sohn verstößt, muss Tommaso, der jüngste und schon vor Jahren nach Rom geflüchtete Bruder plötzlich in der alten Heimat in Pasta machen, obwohl er Schriftsteller werden möchte. Und hier beginnt diese schöne Komödie um die wahre Bestimmung und Liebe und Familienbande in Fahrt zu kommen.
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Verschmelzungsprozess scheiternd
In Japan gibt es bekanntlich einen von christlicher Körperfeindlichkeit weniger lädierten Umgang mit Sexualität: ganz offen lesen Büromenschen Porno-Mangas in der U-Bahn, es gibt so genannte Love-Hotels für‘s Wochenende, in Bars ist der Übergang von Burlesquetanz und Prostitution fließend, japanische Fesseltechniken sind berühmt und das Versenden von gebrauchten Frauenschlüpfern soll ein einträgliches Geschäft sein. Was aber nicht bedeutet, dass Japan eine promiskuitive oder freizügige Gesellschaft wäre - im Gegenteil: lediglich der Umgang damit ist weniger, nun ja, verkrampft.
Einen Überblick über dieses Genre kann man beim DVD Label Rapid Eye bekommen, das in den vergangen Jahren allerlei gesellschaftspolitische Softporno-Kunstfilme aus Japan herausbrachte. Die Retrospektive zeigt nun gewissermaßen die Mutter all dieser (mehr oder minder guten) Streifen: den „Skandalfilm“ Im Reich der Sinne von von 1976.
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Och neeee…, macht ihr ruhig...
Im letzen Jahr gab es den Treffer-Film Wir sind schon mittendrin über ein paar deutsche Thirty-Somethings, die Weg und Ziel noch immer nicht ganz finden konnten und einfach ihren wechselnden Ideen folgen - sich dabei aber dem Vorwurf aussetzen, nicht erwachsen (was immer das heißt) werden zu wollen.
Wie dieser koreanische Film zeigt, ist das Phänomen offenbar international: Sun-woo ist ein Dichter mit Uniabschluss, den man im gesamten Film nicht schreiben sieht, stattdessen viel trinken, rumstoffeln, schlafen, schlafen, schlafen und mit den Frauen nicht zurecht kommen. Außerdem kniet er im Verlauf des Films einige Male und muss sich auch auf andere Arten bei Freunden und Fremden entschuldigen.
Seine Freundin Yuna macht Schluss mit ihm, er will sie zurück, aber irgendwie auch nicht so richtig - weil er nichts so richtig will. Aber Alleinsein ist auch doof. Der Schlüsselsatz des Films kommt von ihr: Immer wenn ich dir fern bin, verlangst du nach mir, und wenn es ernst wird, ist es dir zu eng. So geht es dem traurigen Helden mit allen Dingen des Lebens wie es scheint.

Die junge Sawako hat es nicht leicht. Seit fünf Jahren hangelt sie sich in Tokio von einem trostlosen Job zum nächsten, und ihr derzeitiger Freund ist auch nicht gerade ein Lichtblick. Die Schikanen im Büro und die Luschigkeit des Freundes werden in absurd komischen Szenen zur schrillen Farce eines durchschnittlichen Lebens. Die Chefs und Mitarbeiter im Büro scheuchen die junge Frau durch die Gegend und machen sich aufs Perfideste über sie lustig. Der Freund, ein allein erziehender Vater und erfolgloser Spielzeugdesigner ohne einen Funken von Kreativität, ist seit kurzem zwecks Profilschärfung auf dem Ökotrip und permanent am Pullis stricken. Und Sawako? Die verweigert scheinbar kategorisch jeglichen Widerstand gegen die Umstände. Sie saugt all den Trübsinn um sie herum ergeben in sich auf, bekennt sich in entwaffnender Offenheit zur eigenen Unterdurchschnittlichkeit, schüttet Unmassen von Dosenbier in sich herein, und stolpert einfach weiter durchs Leben. Doch dann muss sie auf einmal überraschend die Muschelfabrik ihres schwerkranken Vaters in der Provinz übernehmen.

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Eis im Kino ist ja an sich nichts besonderes, unter den Füßen allerdings schon. Einige Hundert Zuschauer haben sich die Live Übertragung von Metropolis am Brandenburger Tor trotz des Wetters nicht entgehen lassen. Hier ein paar Foto-Impressionen.

Die Generalprobe von Metropolis ist von Beginn an ein Ereignis. Als der "Dummy Moderator", nachdem er bereits Dieter Kosslick und Kulturstaatsminister Bernd Naumann gemimt hat, zum dritten Mal beschwingt auf die Bühne schreitet, um diesmal den Vorsitzenden der Murnau Stiftung Eberhard Junkersdorf zu mimen, gibt es unter Gelächter spontanen Beifall. Um 10h morgens ist so eine Reaktion von Berlinale-Journalisten schon fast eine Sensation.

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Mein Name ist Hase
Zeithistorische Komödie mit viel Romantik Musik und Kitsch, romantisches Drama über Diskriminierung voller Klischees und liebenswerter Figuren, farbenfrohes Liebesstück zur Überwindung von Vorurteilen und Hass, Melodram mit politischer Botschaft und Herzschmerz - dazu ein bisschen Forrest Gump und Rain Man, alles in diesem Holly-Bollywoodfilm.
Superstar Shah Rukh Khan, gerade vorm Berlinale Palast mit Kreischorgien empfangen, tanzt in diesem Film nicht, singt nur schlecht und kurz und sieht in vielen Einstellungen ein bisschen aus wie Peter Sellers als Inder in Der Partyschreck.
Vom Publikum wurde viel gelacht, viel geweint, romantisch aufgestöhnt und kopfschüttelnd gelächelt. Hach!, möchte man so manches mal rufen.
Der Korrespondent war einige Male zwar irritiert über die allzu offensichtlichen Zeigerfingerbotschaften und naiven Lebensweisheiten der Figuren sowie über den unbekümmerten Einsatz von Klischees wie z.B. der dicken, gutherzigen, schwarzen Südstaaten-Mama mit singendem Lächelboy - aber das alles konnte den Film nicht verderben, sondern gehört in diesem Genre genau so - dazu der ungebremste Einsatz von Musik und Gegenlicht und Zeitlupe und Farbenpracht, wenn es dramatisch sein soll, oder herzschmerzig oder hochromantisch. Da bleibt kein Auge trocken, wenn man ein Herz hat, emotional wird nichts dem Zufall überlassen und der Zuschauer auf keinen Fall sich selbst.

Heute morgen konnten wir wieder einmal die Offenheit der Berlinale bewundern, die sie von den anderen Filmfestivals unterscheidet und sie so einzigartig wie sympathisch macht. Alle Pressevertreter waren eingeladen, im Friedrichstadtpalast der Generalprobe von Metropolis beizuwohnen. Die restaurierte Fassung von Fritz Langs stilbildenden Film wird heute Abend im früheren Revuetheater der DDR unter Begleitung des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin uraufgeführt und Live an das Brandenburger Tor übertragen. Wir dürfen noch nichts sagen, aber so viel sei verraten: man kann jedem nur empfehlen, sich die Übertragung um 20.15 h entweder Live bei Arte anzuschauen oder sich bestückt mit Thermoskanne und Wolldecke zum Brandenburger Tor aufzumachen.

Komplex mit Mutter
Die Straße am Anfang, minutenlang der Blick nach vorn durch platte Landschaft. Nichts geschieht und doch ist viel geschehen. Ein junger Mann wird von den Financiers einer Firma in die Provinz geschickt, um die Rentablität einer Fabrik zu überprüfen. Er hat einen Platten, sucht Hilfe, es passiert ein Unfall. Als er am nächsten Tag ankommt, ist in der Fabrik gedrückte Stimmung: der Eigentümer ist umgekommen. Der Mann im Anzug will nun die gemächlichen Prozesse in Schwung bringen und beginnt - man kann nur sagen aus dem Nichts - ein Verhältnis mit der Witwe. Deren Bruder ist nicht nur gegen die Reformen, sondern aus einem noch nicht erklärbaren Grund auch gegen die Beziehung. Aber alle Leidenschaft und Wut und Trauer ist nur zu erahnen.
Alles scheint innerhalb einer Woche zu geschehen, der tote Patriach wird nicht mehr erwähnt, auch die Töchter reden kein Wort mehr über ihn, die Mutter trifft ihren jungen Liebhaber, Unfälle in der Fabrik häufen sich.
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Wie erzählt man von einer Liebe, die 50 Jahre Trennung überdauert hat und dann doch nicht gelebt werden darf? Eigentlich ist die Situation, die der chinesische Regisseur Wang Quan’an in Tuan Yuan schildert, eine furchtbare Tragödie. Eine Frau will sich zugunsten ihrer großen Liebe von ihrem Mann und ihrer Familie trennen. Und schafft es dann doch nicht. Soweit, so vertraut. Doch Wang Quan’an erzählt die Geschichte nicht in der erwartbaren Tonlage. Er macht kein großes Drama aus dieser höchst dramatischen Situation. Stattdessen wirft er einen fast grausam nüchternen, sezierenden Blick auf die Figuren. Er zeigt über kleine Gesten und Blicke die Hilflosigkeit seiner Figuren, er deutet dezent an, wo die Personen dem Bild, das sie von sich selbst haben und das sie für gewöhnlich nach außen zeigen, widersprechen, und er enthält sich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, jeglicher Parteinahme.
Damit geht es los. Eine interessante Runde aus Künstlern und Filmemachern stellte sich der Presse, um ihr Dasein als Jury und ihre Entscheidungskriterien zu erläutern.

Werner Herzog als Präsident ist über 40 Jahre nach seinem eigenen Debüt auf der Berlinale eine gute Entscheidung. Der Mann repräsentiert alles, was das Kino heute nur noch selten ist: Eigenwilligkeit, Anti-Mainstream, hoher Anspruch, Experimentierfreude, Kunstwille und Verbissenheit.
Auf die Frage, was denn für ihn einen guten Film ausmache, antwortete er: Alle Filme, die die Jury sehen wird, bekommen am Anfang das gleiche Maß an Sympathie. Er glaube, wenn sie einen wirklich großen Film sehen werden, würden das wohl alle Jurymitglieder spüren. Aber feste Kriterien für einen guten Film gebe es nicht, dafür seien sowohl die künstlerischen wie kulturellen Hintergründe der Mitglieder allzu heterogen.

Das ist sie also, die diesjährige Berlinale Tasche (links) - Kultobjekt seit der Erfindung des Merchandise-Sponsoren-Goodies-Trallala. Wie die aus China vor 3 Jahren riecht sie nach Plaste und Elaste, nur diesmal in Lila mit Bunt - sowohl für den Herrn wie die Dame.
Für den packeselnden Blogger als Zweittasche jedoch unersetzlich, weil man all die Zettel, Kataloge, Programme, dazu Getränke, Mütze, Schal, Handschuhe, Kippen, Rechner, Kabel, Brille und Brotzeit einfach nicht in einer einzigen handelsüblichen Tasche (rechts) unterbekommt.
Mein Vorschlag fürs nächste Jahr: Der Berlinale Rucksack!

Das Budget ist mit etwa 15.000 Euro klein und die Spielzeit mit 25 Minuten kurz, aber das hat Regisseur Linus de Paoli und Produzentin Anna de Paoli, die auch gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben (Co-Produzentin Anna Katharina Guddat), keine Grenzen gesetzt: The Boy Who Wouldn't Kill sieht aus, klingt und fühlt sich an wie großes Kino. Der Film der beiden Studenten an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin erzählt die Geschichte einer Konfrontation zwischen Vater und Sohn auf einer einsamen Hühnerfarm irgendwo im Niemandsland nach der Apokalypse – es geht um nicht weniger als Leben und Tod.
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Das lange Warten

Irgendwo in der Nähe von Québec. Ein umgebautes Motel, eingeklemmt zwischen Schnellstraße und Meer, dient als Altersheim. Die Bewohner haben vor allem eins: viel Zeit. Kleine alltägliche Verrichtungen wie der Gang zum Frühstückstisch oder der Besuch bei der Diätberaterin werden von den alten Menschen ausgiebig zelebriert. Irgendwie muss ja diese schier endlose Spanne von freier Zeit gefüllt werden. Im Sommer ist es schöner, da kann man sich wenigstens auf dem schmalen Streifen Natur, das einen vom Meer trennt, vom Wind durchpusten lassen. Im Winter dominiert das Klaustrophobische in den bemüht gemütlich gestalteten Zimmern und in den kahlen, funktionalen Gängen des Heims.
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Aus Anlass eines runden Geburtstags ist ein Rückblick immer etwas Besonderes. Deshalb hat die Berlinale den Filmkritiker und Autor David Thomson (Seine bekanntesten Bücher: Have you seen? A Personal Introduction to 1.000 Films und The New Biographical Dictionary of Film) eingeladen ganz subjektiv Filme der Sektionen Wettbewerb, Forum, Panorama und Generationen auszusuchen. 38 sind es geworden aus mehr als 15.000 Filmen, die im Programm der Berlinale in 60 Jahren gezeigt worden sind. Thomson eröffnet die Retrospektive am 11. Februar persönlich mit einer Einführung vor dem Screening von Jean Renoirs The River (Der Strom). Es folgen Klassiker wie Godards A Bout de Souffle (Außer Atem), Polanskis Repulsion (Ekel) oder Almodóvars La Ley Del Deseo (Das Gesetz der Begierde) aber auch (fast?) Vergessenes wie Werner Herzogs Berlinale Erstling Lebenszeichen. Die aktuellsten Filme in dieser Geburtstags-Retrospektive sind Away from Her (An ihrer Seite) von Sarah Polley und Yella von Christian Petzold.

Zum 60. Geburtstag spendiert die Berlinale sich und uns eine doppelte Hommage: Für ihr Lebenswerk werden die Schauspielerin Hanna Schygulla und der Drehbuchautor und Regisseur Wolfgang Kohlhaase mit goldenen Ehrenbären ausgezeichnet. Im Programm der Hommage laufen jeweils fünf Filme mit Schygulla und von Kohlhaase.
Hanna Schygulla wurde vor allem als Darstellerin in den Filmen von Rainer-Werner Fassbinder bekannt. Die Berlinale zeigt deshalb auch unter anderem den frühen Fassbinder-Film Rio das Mortes und sein Spätwerk Die Ehre der Maria Braun. Für die Titelrolle erhielt Schygulla 1979 den silbernen Bären als beste Schauspielerin und den Deutschen Filmpreis in Gold.
Der Berliner Wolfgang Kohlhaase arbeitet seit mehr als 50 Jahren vor allem als Drehbuchautor. Zu seinen bekanntesten Filmen gehören Solo Sunny und Sommer vor dem Balkon (Regie: Andreas Dresen) und Die Stille nach dem Schuß (Regie: Volker Schlöndorff). Diese Filme werden auch in der Hommage gezeigt, außerdem Kohlhaases erster großer Erfolg als Autor Berlin – Ecke Schönhauser von 1957 (Regie: Gerhard Klein). Solo Sunny bekam 1978 einen silbernen Bären, Kohlhaase schrieb nicht nur das Buch, sondern war neben Konrad Wolf auch Co-Regisseur.

60 Jahre Berlinale sollen gebührend gefeiert werden. „Happy Birthday, Berlinale“ ist nun also das offizielle Motto der diesjährigen Filmfestspiele. Eine riesige Geburtstagstorte zum Jubiläum wurde vorsorglich schon mal auf der Eröffnungs-Pressekonferenz am Montag in Berlin geschlachtet. Es gab also nicht nur das komplette Programm zu verdauen, sondern auch ein mehrstöckiges Zuckerwerk. Gaumenzeugen berichten, der weißrotcremigsüße Kuchen sei lecker gewesen. Und Festivalchef Chef Dieter Kosslick steuerte als verbales Präsent – ganz in der gewohnt launigen Art – gleich noch ein schwäbisches Sprichwort über betagte Jubilare bei: „Wenn die Kerzen teurer sind als die Torte, dann kommt man langsam ins Nachdenken“.