Kanikosen von Sabu


Vorwärts im Krabbengang

Die Geschichte von Ausbeutung, Unterdrückung und Revolte ist im Kino schon auf völlig unterschiedliche Weise erzählt worden: opulent wie bei Eisenstein, ganz nah dran am Alltag wie bei den italienischen Neorealisten, es gibt sie als Tragödie, Komödie und Science Fiction. Der Japaner Sabu hat sich bei der Verfilmung von Takiji Kobayashis Roman Kanikosen aus dem Jahr 1929 für eine Mischung aus Fantasie und Realismus, aus Satire und bitterem Ernst entschieden. Die Figuren in Sabus KANIKOSEN sind Typen, aber sie sind in ihrer Typenhaftigkeit extrem präsent und noch Wochen nach dem Kinobesuch von bleibender Wirkung. Der Film lehnt sich in seiner Ästhetik zudem deutlich an die Manga-Version des Romans an, die 2006 für ein Revival des Stoffes sorgte.

Nun ist Manga sicher nicht der schlechteste Bezugspunkt für Sabu, der sich als Regisseur mit schnell pulsierenden und extrem schrägen Filmen wie POSTMAN BLUES (1997), MONDAY (2000) und HARD LUCK HERO (2003) als Enfant Terrible Schrägstrich Punk des japanischen Kinos etabliert hat. In den neuern Filmen THE BLESSING BELL (2002) und DEAD RUN (2005) schlägt er allmählich leisere Töne an.

In KANIKOSEN spielt die Ausbeutung, Unterdrückung und Revolte auf einem japanischen Krabbenschiff, oder, besser gesagt, einer schwimmenden Konservenfabrik. Unter Deck schuften die Männer in fahlem Licht zwischen monströsen Maschinen zu unmenschlichen Bedingungen. Ein grausamer, dandyhafter Aufseher und sein sadistischer Gehilfe verbreiten Angst und Schrecken unter der Mannschaft. Wer nicht spurt, dem drohen furchtbare Strafen. Der Kapitän ist nur eine machtlose Marionette der Fabrikbesitzer, die den Profit über das Seerecht und die Menschlichkeit stellen: Die Besatzung eines rivalisierenden Schiffes lassen sie nach einem Schiffbruch einfach absaufen statt zu helfen. Während die Herrschaften in ihren Kajüten Whisky schlürfen, schwitzen die Arbeiter vom Krabbenmief umdünstet an riesigen Fließbändern und Pressmaschinen, oder sie frieren nachts in ihren feuchtkalten Schlafkojen. In einem Wort: Das Schiff ist die Hölle auf Erden. Als es schließlich zur Revolte kommt, wird diese blutig niedergeschlagen. Der Funke zum Widerstand ist damit jedoch gelegt.

Sabu durchbricht diese prototypische proletarische Erweckungsgeschichte mit allerlei gewollten Stilbrüchen, die das Genre unterlaufen. Ein kollektiver Selbstmordversuch gerät zur chaplinesken Groteske, die heimlichen Wunschträume der Arbeiter werden im Weichzeichner in ihrer Zärtlichkeit und Naivität zugleich entblättert, auf einem russischen Fischkutter lebt die Mannschaft bei Wodka, Kaviar und Tanz die lebensbejahende Utopie der klassenlosen Gesellschaft, während die japanischen Zufallsgäste erst einmal mit großen Augen stumm und steif daneben stehen und einfach nicht locker werden können. Ein künstlerisch begabter Arbeiter, der über den herrschenden Zuständen wahnsinnig geworden ist, bewegt sich nur noch seitwärts im „Krabbengang“. Aus seinen Augen sehen wir auch die ersten Minuten des Films: Eine Luke öffnet sich, ein zitternder, völlig verdreckter Mensch schaut mit großen Augen nach oben und wird im selben Moment von einer Ladung Krabben, die völlig unvermittelt aus der Luft geflogen kommen, begraben. Erst zum Schluss löst sich auf, was wir zu Anfang gesehen haben und enthüllt seinen ganzen Schrecken.

All diese grotesken oder fantastischen Elemente eröffnen im Film Freiräume. Sie spiegeln Träume wider, sie verweisen auf eine andere Art der Wahrnehmung, und sie korrespondieren eben dadurch mit jenem Funken, der die Revolution auch in KANIKOSEN ins Rollen bringt: Mit der Freiheit, sich etwas anderes als das Gegebene vorzustellen.

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Titel

Orignaltitel

Kanikosen

Credits

Regisseur

Sabu

Schauspieler

Hirofumi Arai

Tokio Emoto

Takehiro Kimoto

Takayuki Kinoshita

Kengo Kora

Ryuhei Matsuda

Hidetoshi Nishijima

Land

Flagge JapanJapan

Jahr

2009

Dauer

109 min.

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