L'arbre et la forêt (The Family Tree) von Olivier Ducastel, Jacques Martineau

Die Säge an den Stamm gesetzt

Wagner in voller Lautstärke zum Aufwachen ist nicht jedermanns Sache. Der 77 Jährige Frédérick liebt es. Und er liebt den Baum, den er 1947 vor dem Haus gepflanzt hat. Sonst ist er was die Amerikaner einen „grumpy old fart“ nennen - wie es scheint.
Er hat ein aufgrund eines Schwurs ein lebenslanges Verhältnis zu Bäumen, und die Familie ist mit dem Holz zu Wohlstand gekommen. Alle Generationen nebst Angetrauten und Geschiedenen hat sich eingefunden, weil der älteste Sohn zu Grabe getragen wurde. Doch Frédérick war nicht dabei. Dem Fernbleiben folgt familientypisches Schweigen von einigen und Schimpfen von anderen. Der jüngere Sohn Guilliaume hat ein Alkoholproblem und auch eines mit seinem Vater, das an diesem Abend wieder ausbricht. Die Enkelin und Tochter des Toten mag ihren Opa, aber ist erschüttert, dass sie nicht traurig über den Tod ihres Vaters ist. Sie hatte zu ihm so wenig ein Verhältnis wie ihr Vater zu Frédérick. Das nur einer der Belege in diesem Film, wie Fähigkeiten und Unfähigkeiten an die nächste Generation weitergereicht werden. Und dann ist da noch Marianne, die Großmutter, die beschwichtigt und wartet - und mit Frédérick seit 50 Jahren ein Geheimnis hütet.

Wagner begleitet mit einer Ausnahme den gesamten Film. Einmal fliegt die Kamera minutenlang über den Wald der Familie, der nicht zu enden scheint, und dazu erklingt sie auch. Wagner musste Frédérick hören, als er im KZ war - aber nicht wie es die Familienmythologie behauptet wegen seiner politischen Auffassungen, sondern weil er homosexuell war. Und ist. Dies eröffnet er der Familie einige Wochen nach der Beerdigung, nennt das auch als Grund für sein Zerwürfnis mit dem toten Sohn. Ob der auch homosexuell war (seine Frau macht eine Andeutung), bleibt im Dunkeln, aber wir beobachten in jedem Fall, dass sich auch Selbsthass und Geheimnistuerei auf die nächsten Generationen überträgt. Hier haben alle gelernt, den anderen in Ruhe zu lassen und meinen damit eigentlich: lass mich in Ruhe! - mit Toleranz hat das nichts zu tun, diese Familie ist eine von Einzelgängern. Sie dazu geworden. Und nun soll es sich ändern.

So lange halten diese Muster nämlich, bis das Geheimnis offenbart wird. Marianne ließ Frédérick sein Leben leben, hatte selbst Affären, sie liebten einander, führten eine Ehe, bekamen Kinder, ja waren glücklich miteinander wie es scheint. Nur rauskommen durfte nichts. Und doch hat die Unfähigkeit oder Angst sich zu offenbaren den Familienstamm geschädigt.
Und weil in dem Film so viel von Bäumen und pflanzen und abholzen die Rede ist, stellt sich irgendwann die Frage: kann man eigentlich seinen Stammbaum fällen?

Gegen Ende, nach vielen Debatten und als die Dinge in Bewegung geraten sind, stehen Marianne und Frédérick am Fenster, blicken auf den im Sturm wankenden Baum, den er sich schwor zu pflanzen, wenn er das KZ überlebt. Sie fragen sich: wird er halten? Denn der Baum steht sowohl für die Lüge, die ihr Leben bestimmt hat, wie für die Familie, die einander trotz allem liebt.

Ein gelungener Film über Familiendynamik, das Schweigen, das es in allen Familien irgendwo gibt, die Gemeinsamkeiten und Muster, die Konflikte zwischen Vätern und Söhnen.
Am Ende entscheidet sich Frédérick, dass er sich von der Vergangenheit nicht auffressen lassen will (Wagner z.B. hat er schon vor dem KZ gehört, wollte ihn nicht den Nazis überlassen danach) - aber er wird nicht den Baum fällen.

Kommentare ( 1 )

treffend beschrieben! eine wirklich gute Filmbeschreibung, die trifft es sehr genau!

Hier gibt es auch einen netten Beitrag:
http://www.neues-deutschland.de/artikel/165316.eine-gesellschaft-ohne-kaestchen.html

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Titel

Orignaltitel

L'arbre et la forêt

Englischer Titel

Family Tree

Credits

Regisseur

Olivier Ducastel

Jacques Martineau

Schauspieler

Françoise Fabian

Guy Marchand

Yannick Renier

Sabrina Seyvecou

Land

Flagge FrankreichFrankreich

Jahr

2010

Dauer

105 min.

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