Traditionell stellt sich die festivalblog Redaktion am Tag der Preisvergabe der immer wieder schwierigen Aufgabe der Bärentipps.
Die Überraschungsparty in der neuen gemeinsamen Wohnung ist der erste Test für Robert. Nimmt man ihm den fürsorglichen Lover der Transfrau Leni ab? In Wirklichkeit ist Robert verdeckter Ermittler. Mit Hilfe von Leni, die bis vor kurzem wegen Dealerei im Gefängnis saß, soll er an einen Drogenboss herankommen. Was die Sache kompliziert macht: Robert war früher tatsächlich einmal Lenis Liebhaber, aber da hieß Leni noch Lenard und war ein Mann. Christoph Hochhäusler inszeniert BIS ANS ENDE DER NACHT stilsicher als Mischung aus Film noir und Liebesdrama. Allerdings wäre dieser Film vielleicht besser in einer Nebenreihe aufgehoben gewesen – fühlt er sich doch über weite Strecken wie ein Fernsehformat mit künstlerischen Ambitionen an.
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Der Film setzt ein mit der „menschlichen Bombe“: Ein Song der Band „Téléphone“ aus dem Jahr 1979, vorgetragen von einem Patienten auf der „Adamant“, einer schwimmenden Tagesklinik mitten in Paris. Hier werden Menschen mit psychischen Problemen betreut. Der Sänger, sein Gesicht von keinem einfachen Leben gezeichnet, geht völlig auf in dem Lied: Es ist ein Moment der Selbstermächtigung, eine kraftvolle und sehr bewegende Sequenz gleich zu Beginn von SUR L’ADAMANT, dem einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb.
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Der weiße Cop Travis Hurley soll den Fall einer vor 20 Jahren ermordeten jungen Aboriginal-Frau wieder aufnehmen. Offenbar hat die Polizei damals ordentlich geschlampt und vertuscht. Als Travis in der Outback-Kleinstadt Limbo eintrifft, stoßen seine Fragen auf allen Seiten zunächst auf Ablehnung – bei der Familie des Mädchens genauso wie beim Bruder eines inzwischen verstorbenen weißen Verdächtigen. Regisseur Ivan Sen, selbst Aboriginal, inszeniert das Drama wie einen klassischen Western Noir – in Schwarzweiß-Bildern, mit grandiosen Landschaftsaufnahmen und einem einsamen, kaputten Protagonisten, der in der eigenen Vorhölle lebt – ebenso wie fast alle anderen in dem Film, Weiße und Schwarze.
von links nach rechts: die Schauspieler:innen Timocin Ziegler und Thea Ehre mit Regisseur Christoph Hochhäusler
Als letzter Wettbewerbsfilm der Berlinale 2023 hat heute Abend BIS ANS ENDE DER NACHT von Christoph Hochhäusler seine Premiere. Hochhäusler wird wie Christian Petzold und Angela Schanelec, die ebenfalls im Wettbewerb der Berlinale vertreten sind, der nur sehr lose definierten Filmrichtung der "Berliner Schule" zugerechnet.
Vor der Premiere stellte sich Hochhäusler zusammen mit seinem Team den Fragen der Journalist:innen. Obwohl viele den Film als Genremix betrachteten, ordnete Hochhäusler den Film klar dem Film noir zu. Dabei zitierte er Rainer Kleppekes, der einst schrieb: "Film noir ist ein Genre, das Mitleid mit Männern hat, die ihre Seele verloren haben." Dieses Zitat treffe auch sehr gut auf seinen Film zu, so Hochhäusler.
1994 ist das Jahr, in dem Kurt Cobain starb. Auf dem Campus der chinesischen Kunsthochschule, die im Mittelpunkt von Liu Jians Wettbewerbsbeitrag ART COLLEGE 1994 steht, trifft die Nachricht vom Tod des Musikers mindestens einen jungen Studenten vom Typ „chinesischer Grunge“ bis ins Mark. Er identifiziert sich mit dem Anti-Haltung seines Helden – auf der Hochschule gehört er eindeutig zum Team „Rebellen gegen die Konventionen“. Ob Kunst etwas Großes bewegen soll oder in erster Linie dazu dient, die Künstler reich und berühmt zu machen: Das ist nur eine der Fragen, die unter den Studierenden ausgiebig diskutiert werden.
Produzent Genki Kawamura, Regisseur Makato Shinkai und die Stimme von Suzume, Nanoka Hara
© 2022 "Suzume" Film Partners
Regisseur Makoto Shinkai weiß, welche Linie er fortsetzt. Der letzte Anime-Film im Wettbewerb der Berlinale war vor 21 Jahren SPIRITED AWAY (Chihiros Reise ins Zauberland) von Hayao Miyazaki. Miyazaki gewann damals den Goldenen Bären und SPIRITED AWAY wurde danach zum weltweit erfolgreichsten Animationsfilm aus Japan, bis er 2017 von YOUR NAME abgelöst wurde. Regisseur von YOUR NAME war: Makato Shinkai.
Es ist ein klaustrophobisches Setting, das der portugiesische Regisseur João Canijo in MAL VIVER aufmacht: Fünf Frauen, ein düsteres Hotel und jede Menge Verzweiflung, Wut und Aggression. Die fünf Frauen – Mutter, zwei Töchter, eine Enkelin und eine Hausangestellte, machen sich das Leben gegenseitig zur Hölle und keine findet den Ausgang aus dieser geschlossenen Gesellschaft. Eigentlich ein interessanter Plot. Eigentlich sind auch die Schauspielerinnen überzeugend in ihren Rollen. Und eigentlich beweist der Regisseur ein gutes Gespür für die richtigen Bilder, um die beklemmende Stimmung des Films fühlbar zu machen. Und trotzdem ist dieser Wettbewerbsbeitrag kein gelungener Film.
ROTER HIMMEL ist ein Sommerfilm. In Christian Petzolds Wettbewerbsbeitrag geht es ums Erwachsenwerden und die Leichtigkeit des Sommers, aber zugleich um eine Katastrophe und die Schwere einer Reise zu sich selbst. Hauptfigur Leon hat eigentlich keine Probleme, aber Paranoia – wie es der Regisseur bei der Pressekonferenz zum Film auf den Punkt bringt.
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© Gariza Films, Inicia Films
Das Kind möchte nicht mehr mit seinem Namen angeredet werden – „Aituro“ fühlt sich einfach falsch an, ebenso wie bestimmte Kleidungsstücke oder der Kurzhaarschnitt, den die Großmutter dem Kind am liebsten verpassen möchte. Der Name „Cocó“ ist für eine Weile eine Übergangslösung. In Gesprächen mit der Mutter kann Cocó nur zögerlich artikulieren, was ihn (oder sie?) beschäftigt.
Copyright: faktura film / Shellac
Das Offensichtliche ist an MUSIC das Besondere: es ist eine Geschichte in Bildern. Ein Film, der als Kunst die Grenzen des Films durchbricht. MUSIC würde als Ausstellung, Graphic Novel oder immersives Virtual Reality Erlebnis genauso seinen Zauber entfalten wie als Film.
Hauptdarsteller Aliocha Schneider und Regisseurin Angela Schanelec
Angela Schanelec ist eine der profiliertesten deutschen Regisseurinnen. Im Jahr 2019 gewann sie mit "ICH WAR ZUHAUSE, ABER..." den Regiepreis bei der Berlinale. Heute stellte sie in einer Pressekonferenz ihren neuesten Film "MUSIC" vor, der im Wettbewerb seine Premiere hatte.
Copyright: Wyatt Garfield
Männer haben es nicht leicht, auch Ralphie nicht. Er arbeitet als Uber-Fahrer, seine schwangere Freundin im Supermarkt. Das Geld reicht gerade so. Auch mit Ralphies Innenleben ist es nicht zum Besten gestellt. Der Versuch, durch Bodybuilding sein fehlendes Selbstvertrauen auszugleichen, wird gleich zu Beginn in seiner Absurdität als hilfloser Versuch entlarvt.
Foto: Wolfgang Ennenbach
Dieser Film hat ein klares Programm. Gut gegen böse. Zart gegen wuchtig. Hier die sensible, talentierte und tapfere Dichterin und Schriftstellerin. Dort der stämmige Baum von Mann, ebenfalls Schriftsteller, aber nicht ganz so dünnhautig. Sie verlieben sich. Er unterdrückt sie. Sie leidet. Kämpft tapfer um Selbstbestimmung. Scheitert. Dass diese Lesart der komplizierten Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch nicht gerecht wird: geschenkt. Das ist künstlerische Freiheit oder auch Interpretation. Dass es aber auch als Film überhaupt nicht funktioniert, ist schon eher das Problem. Dass so etwas Margarethe von Trotta passiert, ist verwunderlich und schade. Dass der Film im Wettbewerb läuft: Hätte jetzt nicht sein müssen.
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Der chinesische Wettbewerbsbeitrag BAI TA ZHI GUANG erzählt in langsamer, gekonnt durchkomponierter Erzählweise von der Reise eines Mannes zu sich selbst – im modernen Beijing, in einer Welt, die wenig Orientierung bietet für das seelische Gleichgewicht. Es ist in erster Linie eine zutiefst persönliche Geschichte, sagt aber auch etwas darüber aus, wie eine Gesellschaft mit den im Alltag nicht sehr deutlich konturierten Schatten der Vergangenheit umgeht.
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Copyright: Jon Pack
Es ist immer wieder beeindruckend, wie das amerikanische Kino es schafft, Geschichten zu verdichten und zu ihrem Kern zu führen. Dies lässt sich wunderbar an Celine Songs Debütfilm PAST LIVES erleben.
von links nach rechts: Greta Lee, John Magaro und Celine Song
Das vielleicht Schönste an einem Filmfestival ist die Möglichkeit, in einer Pressekonferenz direkt nach dem Film mit den Regisseur:innen und Schauspieler:innen ins Gespräch zu kommen.Gerade bei einem sehr emotionalen Film spendet dies fast so etwas wie Trost und kann ein wichtiger Teil für die Verabeitung des Films werden. Im Fall von PAST LIVES war in jedem Fall zu spüren, wie sich eine Energie von der Leinwand in den Kinosaal und dann weiter in den gemeinsamen Raum der Berlinale Pressekonferenz übertragen hat.
von links nach rechts: Adrien Brody, John Trengove und Jesse Eisenberg
MANODROME ist einer der wenigen Wettbewerbsbeiträge, der eine gewisse Star-Aura ausstrahlt und dementsprechend groß war das Interesse der Pressekonferenz mit Regisseur Jon Trengove und den Schauspieler:innen Adrien Brody, Jesse Eisenberg, Odessa Young, Sallieu Sesay und Philip Ettinger. Obwohl nicht alle Fragen beantwortet werden konnten, wurden die Referenzen zum Waffenkult in den USA und den Manosphere-Kreisen im Internet sehr deutlich
Dieser Film ist eine Zumutung. Was nicht heißt, dass es ein schlechter Film ist. Aber der Reihe nach. Der australische Wettbewerbsbeitrag THE SURVIVAL OF KINDNESS ist ein Film über Gewalt, Rassismus, Ausgrenzung und über die Menschlichkeit in all diesem Wahnsinn. Umgesetzt als hochartifizielle filmische Metapher, mit starken Bildern und Tönen, aber ohne verständlich artikulierte Sprache.
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Copyright: Budgie Films Inc.
Regisseur Matt Johnson zeigt in BLACKBERRY eindrucksvoll, wie sich eine Ansammlung an chaotischen, aber brillanten Nerds mit einem knallharten Geschäftsmann verbunden hat, um die Mobilwelt zu revolutionieren und mit ihrer genialen Idee für Furore zu sorgen.
Matt Johnson und Jay Baruchel
Eine äußerst lebendige Pressekonferenz wurde anlässlich der Weltpremiere von BLACKBERRY von Regisseur Matt Johnson, Jay Baruchel, Glenn Howerton und Cary Elwes abgehalten. Man konnte bei Regisseur Matt Johnson eine enorme Begeisterung für die Filmkunst spüren, und er betonte mehrmals die Bedeutung einer eigenen Handschrift auch für den englischsprachigen Teil Kanadas. Es sei wichtig, sich vom US-amerikanischen Kino abzusetzen, anstatt es bloß zu imitieren.