Berlinale 2023: MAL VIVER von João Canijo

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Es ist ein klaustrophobisches Setting, das der portugiesische Regisseur João Canijo in MAL VIVER aufmacht: Fünf Frauen, ein düsteres Hotel und jede Menge Verzweiflung, Wut und Aggression. Die fünf Frauen – Mutter, zwei Töchter, eine Enkelin und eine Hausangestellte, machen sich das Leben gegenseitig zur Hölle und keine findet den Ausgang aus dieser geschlossenen Gesellschaft. Eigentlich ein interessanter Plot. Eigentlich sind auch die Schauspielerinnen überzeugend in ihren Rollen. Und eigentlich beweist der Regisseur ein gutes Gespür für die richtigen Bilder, um die beklemmende Stimmung des Films fühlbar zu machen. Und trotzdem ist dieser Wettbewerbsbeitrag kein gelungener Film.

Die Handlung zentriert sich um Piedade, eine der Schwestern. Sie ist nicht mehr ganz jung, hat eine Tochter in den frühen Zwanzigern. Piedade führt das Hotel, das dringend einer Renovierung bedürfte, mit zwanghafter Besessenheit für Details, von Traurigkeit und Frustration gezeichnet und völlig kraftlos – Anabela Moreira steht die Last des Lebens in jeder Szene ins Gesicht geschrieben. Ihr Rücken ist gebeugt, der Kopf hängt. „Es ist so schwer“ ist ein wiederkehrender Satz, nein Seufzer, von ihr. Ihre Familie sagt, sie sei „kalt“. Das gern artikulierte Mitleid mit ihr („meine arme Tochter!“) ist lediglich die Kehrseite der darunter liegenden Verachtung.

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So ist es nicht verwunderlich, dass Piedade lediglich ihrem Schoßhündchen Wärme und Zuneigung entgegenbringt – alle anderen hassen das Tier dafür. Einzig, wenn Piedade sich ihre rote Badekappe überstreift und früh am Morgen ein paar Bahnen durch das kalte Wasser im Pool zieht, wirkt sie vital und fast befreit. Saudade hin, Saudade her: Piedade ist offensichtlich depressiv, wahlweise wird sie von den anderen Frauen auch als neurotisch oder bipolar bezeichnet. Man fragt sich nur, warum diese Frau keine professionelle Hilfe bekommt. Antwort: Weil sonst der Film nicht so funktionieren würde, wie er (nicht) funktioniert. Da es so ist, wie es ist, muss sich Piedade durchs Leben quälen. Leider werden auch wir gequält.

Vielleicht am wenigsten hilfreich für Piedade ist die Mutter (böse Frau!), der es Vergnügen zu bereiten scheint, die Tochter seelisch zu quälen. Küchenpsychologen aufgepasst: Schwierige Mutter-Tochter-Beziehungen werden oft an die nächste Generation weitergegeben. Piedades Tochter hat gerade ihren Vater verloren, sie sehnt sich nach der Mutter, kann ihr aber nicht verzeihen, dass Piedade nicht dazu in der Lage ist, ihr Geborgenheit zu geben.
Alle Konflikte zwischen diesen Frauen werden so inszeniert, dass eine Lösung – oder auch nur eine Annäherung, so etwas wie Verständnis füreinander – völlig unmöglich erscheint.

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In stark stilisierten Einstelllungen reden die Frauen konsequent aneinander vorbei. Meist schauen sie dabei gezielt ins Leere oder hasserfüllt auf das Gegenüber; die Kamera verharrt mit quälerischer Beharrlichkeit auf dieser Erstarrung. Je giftiger die Pfeile auf das Herz der anderen, desto besser. Das hat zunächst durchaus seine Wirkung – man schaudert und ist fasziniert zugleich. Nach der zwanzigsten Wiederholung ist es jedoch nur noch nervig. Ja, wir haben verstanden, dass die Frauen in ihrem Netz von unlösbaren Konflikten gefangen sind. Und ja, wir haben auch verstanden, dass sie sich offenbar nicht ändern können. Aber das ist nicht abendfüllend. Vielleicht wäre ein Mord die Lösung gewesen. Aber der passiert nicht.

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Während des Wochenendes, an dem die Handlung stattfindet, zieht eine Reihe von Horror-Gästen durch das dunkel getäfelte Hotel. Auch sie haben Psycho-Quälereien in unterschiedlichen Varianten zu bieten. Doch hier werden die menschlichen Abgründe nur angerissen – ausgeführt werden sie in VIVER MAL, eine Art „Gegenschuss“-Film zu MAL VIVER, der seltsamerweise in der Reihe Encounters gezeigt wird. Wenn schon, dann wäre es logisch gewesen, beide Filme in den Wettbewerb aufzunehmen.

Geschenkt. Das Ende, auf das MAL VIVER hinsteuert, ist so unausweichlich wie furchtbar. Und am erschreckendsten ist vielleicht, dass es einen nach diesen zwei Stunden, die man mit diesem weiblichen Quintett des Horrors und des Elends verbracht hat, relativ kalt lässt.

Fotos: Midas Films

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Titel

Orignaltitel

Mal Viver

Englischer Titel

Bad Living

Credits

Regisseur

João Canijo

Schauspieler

Cleia Almeida

Madalena Almeida

Vera Barreto

Rita Blanco

Anabela Moreira

Jahr

2023

Dauer

127 min.

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