Berlinale 2023: BAI TA ZHI GUANG (THE SHADOWLESS TOWER) von Zhang Lu

shadowless-tower.jpg

Der chinesische Wettbewerbsbeitrag BAI TA ZHI GUANG erzählt in langsamer, gekonnt durchkomponierter Erzählweise von der Reise eines Mannes zu sich selbst – im modernen Beijing, in einer Welt, die wenig Orientierung bietet für das seelische Gleichgewicht. Es ist in erster Linie eine zutiefst persönliche Geschichte, sagt aber auch etwas darüber aus, wie eine Gesellschaft mit den im Alltag nicht sehr deutlich konturierten Schatten der Vergangenheit umgeht.

Der Restaurantkritiker Gu Wentong ist um die 50 und geschieden, die sechsjährige Tochter lebt bei seiner Schwester und dem Schwager, zu seinem Vater hat er seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr. Sein ganzes Leben hat er in Beijing verbracht, er kennt jeden Winkel in seinem alten Viertel. Und doch scheint es, als ob er allmählich die Orientierung verliert. Er trinkt zu viel und spricht zu wenig. Seine Miene ist eigentlich immer bekümmert, außer wenn er mit seiner kleinen Tochter rumalbert. Nach einem deprimierend kurz gehaltenen Familienbesuch am Grab der Mutter steckt der Schwager ihm einen Zettel zu: mit der Telefonnummer des Vaters. Und nun beginnt das lange, zögerliche Kreisen von Gu Wentong um das Zentrum seiner Verlorenheit. Eine Spurensuche, die ihm helfen könnte, die Leerstellen in seiner Seele zu füllen.

shadowless-tower2.jpg

Auf diesem Weg steht Gu Wentong die quicklebendige, tatkräftige Fotografin Ouyang Wenhui zur Seite, eine junge Kollegin, die schicke Bilder für seinen Foodblog schießt. Sie gehört eindeutig einer anderen Generation an: trägt bunte Klamotten und Turnschuhe, im Kontrast zu seinen altmodischen, traditionell-chinesische Latschen vom Typ „alter Onkel“. Sie bewegt sich sicher in der modernen, digitalen Welt – während sich in seiner spartanisch eingerichteten Wohnung die Bücher unter dem Bett und an den Wänden stapeln. Sie fragt oft allzu direkt nach, er ist durch „zu viel Höflichkeit“ gehemmt. Mit ihrer kleinen Digitalkamera schießt die junge Frau permanent Fotos von Gu Wentong – zum Teil, ohne, dass er es überhaupt mitbekommt. Und so doppelt der Film für uns, die Zuschauer, und für Gu Wentong selbst den Blick auf den Protagonisten, lädt uns dazu ein, noch einmal genauer hinzuschauen. Regisseur Zhang Lu setzt solche Spiegelungen im Film sehr bewusst ein: „Vielleicht sehen wir im Spiegel Dinge, die wir sonst nicht sehen“, sagt er bei der Pressekonferenz zum Film.

shadowless-tower3.jpg

Es geht in diesem Film um das, was das „Selbst“ ausmacht, um Familien, unausgesprochene Geheimnisse und Sehnsüchte. Das Weggehen aus der Heimat Beijing spielt große eine Rolle, egal, ob „nur“ in eine andere Stadt oder gleich nach Paris. Entfernung ist aber zugleich zeitlich konnotiert: Was früher galt, gilt heute nicht mehr, oder doch? Sinnsprüche von Mao, Gedichte von Lu Xun und moderne Tipps für Aktienanlagen sind unterschiedliche Quellen, die in BAI TA ZHI GUANG als „Sinnstifter“ zitiert werden. Inmitten dieser Gemengelage aus zeitlicher und räumlicher Entfernung ergeben sich Fragen, die lange unausgesprochen im Raum stehen: Warum ist Gu Wentong ohne Vater aufgewachsen? Was geschah damals wirklich? Wieso ist er selbst geschieden? Und welche alten Geschichten stecken hinter dem Zusammenhalt seiner alten Clique aus Schulzeiten, die sich noch immer regelmäßig trifft, zu viel trinkt und dann nostalgische Lieder singt?

Und auch die junge Ouyang Wenhui hat Leerstellen in ihrer Seele. Neben einer verlorenen großen Liebe ist die ihre zweite Leerstelle vielleicht die größte, die ein Mensch haben kann: Sie ist als Waisenkind aufgewachsen. Die gemeinsame Expedition in die kleine Stadt am Meer, in der Gu Wentongs Vater inzwischen lebt, ist auch eine Reise zurück zu ihren Wurzeln – denn hier stand einst das Kinderheim, in dem sie groß wurde.

shadowless-tower4.jpg

Ganz langsam werden die losen Fäden der Geschichte aufgenommen und miteinander verknüpft. Regisseur Zhang Lu verwebt die Geschicke seiner Protagonisten fast beiläufig. Er nimmt sich viel Zeit für die Entwicklung und das – mehr oder mindere – Auflösen offener Fragen, für den Weg, den die Protagonisten gemeinsam und alleine zurücklegen. Und doch erscheint einem dieser Film an keiner Stelle als zu lang. Selbst die Nebenfiguren werden mit wenigen Pinselstrichen eindrücklich und stimmig charakterisiert. Die Hauptdarsteller Xin Baiqing (Gu Wentong) und Huang Yao (Ouyang Wenhui) tragen den Film souverän, aber auch die kleinen Nebenrollen sind sehr gut besetzt, vor allem Tiam Zhuanzhuang als Vater und Wang Hongwei als Schwager bleiben einem noch lange im Gedächtnis.

Der titelgebende weiße, schattenlose Turm gehört zu einer weißen Pagode im Westen Beijings, die insofern außergewöhnlich ist, weil sie mit ihrer runden Form aus all den rechten Winkeln der chinesischen Hauptstadt heraussticht. „Sie ist ein besonderes, einzigartigartiges Objekt“, so der Regisseur. Für ihn – und auch für seine Figuren – ist sie „unmittelbar ansprechend, spendet emotionalen Trost“. So, wie sein Film.


Fotos: Lu Films

Kommentiere den Film oder den Eintrag

Titel

Orignaltitel

Bai Ta Zhi Guang

Englischer Titel

The Shadowless Tower

Credits

Regisseur

Zhang Lu

Schauspieler

Xin Baiqing

Wang Hongwei

Nan Ji

Li Qinqin

Huang Yao

Wang Yiwen

Tian Zhuangzhuang

Jahr

2022

Dauer

144 min.

Related

Zhang Lu (Regisseur)

BERLINALE 2007

Hyazgar (Regisseur)

BERLINALE 2019

Fukuoka (Regisseur)

Li Qinqin (Schauspieler)

BERLINALE 2018

Rou qing shi (Schauspieler)

Impressum