Berlinale 2023: ART COLLEGE 1994 von Liu Jian

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1994 ist das Jahr, in dem Kurt Cobain starb. Auf dem Campus der chinesischen Kunsthochschule, die im Mittelpunkt von Liu Jians Wettbewerbsbeitrag ART COLLEGE 1994 steht, trifft die Nachricht vom Tod des Musikers mindestens einen jungen Studenten vom Typ „chinesischer Grunge“ bis ins Mark. Er identifiziert sich mit dem Anti-Haltung seines Helden – auf der Hochschule gehört er eindeutig zum Team „Rebellen gegen die Konventionen“. Ob Kunst etwas Großes bewegen soll oder in erster Linie dazu dient, die Künstler reich und berühmt zu machen: Das ist nur eine der Fragen, die unter den Studierenden ausgiebig diskutiert werden.

Der 2D-Zeichentrickfilm folgt einer Handvoll junger Männer und Frauen der Fakultäten Kunst und Musik, die sich zwischen Tradition und Moderne, Anpassung und Rebellion zurechtfinden müssen. Wobei „Rebellion“ hier sehr dezidiert auf die Kunst beschränkt bleibt. Die großen Studierendenrevolten sind zu diesem Zeitpunkt erst fünf Jahre her, können in diesem offiziellen chinesischen Wettbewerbsbeitrag aber (natürlich) mit keinem Wort Erwähnung finden.
Die jungen Leute suchen nach dem Sinn der Kunst und dem Sinn ihres Lebens. Was junge Künstler eben so tun. Und doch ist hier einiges anders. „Moderne“ oder „westliche“ Kunstformen und Philosophie-Ansätze können hier nicht völlig frei ausprobiert werden.

Auf der staatlich geführten Uni gibt es progressive Dozenten und konservative, die Tuschezeichner gelten als „traditionell“, während die Ölmaler den Ruf der jungen, am Westen orientierten Wilden haben. Grenzen können ausgelotet werden, aber man kann jederzeit von den Autoritäten zurückgepfiffen werden. Ins Ausland zu reisen, um die Originale der westlichen großen Meister in Europa oder den USA zu studieren, ist den meisten der jungen Leute nicht möglich. Fast alle haben wenig Geld, viele kommen vom Land und vermissen ihre Heimat. Die wenigen Studierenden und Künstler mit Beziehungen in den Westen werden mit einer Mischung aus Neid und Argwohn beäugt.

Welche Träume haben die jungen Leute? Manche wollen einfach nur viel Geld machen, um sich endlich die allgegenwärtigen Konsumgüter leisten zu können. Andere wollen etwas „Großes“ schaffen. Berühmt werden. Vor allem für die jungen Frauen stehen Fragen wie Heirat und die Gründung einer Familie in der Priorität noch vor der Umsetzung ihrer künstlerischen Ambitionen. Träume von der romantischen Liebe werden klein angesichts der materiellen Sicherheit, die ein langweiliger Ehemann (eventuell) bieten kann. Und dennoch wird die Kunsthochschule als Ort gezeigt, an dem gerade auch für junge Frauen manches möglich scheint und die Gedanken über bekannte Grenzen hinaus zu fliegen lernen.

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Auch die Jungen probieren sich aus, wagen es, die Umsetzbarkeit ihrer Träume auszuloten, und werden oft genug von der Realität eingeholt. Sich als „freier“ Künstler durchzuschlagen ist hart, erfordert Mut – und ist mitunter mit der Verwirklichung eines konventionellen privaten Glücks nicht vereinbar. So zieht auch einer der Protagonisten nach einiger Zeit weg aus dem Wohnheim – dem brodelnden Sumpf von Idee und potentiellen Systemsprengern – in eine Wohnung außerhalb der Stadt, wo er sich mit seiner Freundin schon mal auf das künftige Eheleben vorbereitet.

ART COLLEGE erzählt von diesen Konflikten anhand einiger exemplarischer Figuren, und mit ausgiebigen Dialogen. Aber auch das Visuelle kommt nicht zu kurz. Liu Jinas Zeichenstil ist bewusst einfach gehalten. Die Tableaus, die er schafft, sind dennoch von beeindruckender Intensität. Einen besonderen Reiz machen die Kunstwerke aus, die im Film gezeigt werden: Diese sprengen den eigentlichen Stil des Zeichentrickfilms und öffnen den Blick für andere Formen des künstlerischen Ausdrucks. Sie sind wie Fenster in eine andere Welt.
Und immer wieder kommen in ART COLLEGE 1994 Tiere vor – als ob sie den Blick weg von den um sich selbst kreisenden Menschen lenken wollen. Zugleich können sie immer wieder auch als Spiegelbilder für das Geschehen auf der Leinwand gelesen werden: Gleich zu Beginn des Films etwa krabbelt ein Käfer eine Steinmauer empor, rutscht immer wieder ab, landet zappelnd auf dem Rücken, dreht sich wieder auf die Beine und nimmt einen neuen Anlauf – nur um erneut abzurutschen. Schließlich läuft er aus dem Bild. Ob er wohl aufgegeben hat oder einen anderen Weg gefunden hat und die Mauer einfache nur umrundet?

Mit seinem animierten 2D-Zeichentrickfilm ist Liu Jian nach 2017 bereits zum zweiten Mal im Wettbewerb der Berlinale vertreten. Damals lief mit HAVE A NICE DAY ein ziemlich explosiver Zeichentrick-Noir, der die Gier nach Geld im heutigen China aufs Korn nahm. Nachdem ART COLLEGE 1994 im vergangenen Jahr kurzfristig vom Festival in Cannes zurückgezogen worden war, offiziell, weil er wegen der Corona-Auflagen nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnte, kam der Film im Februar sozusagen in letzter Minute als Nachzügler in das Rennen um den Goldenen Bären.

Abbildungen: Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd

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Titel

Orignaltitel

Art College 1994

Credits

Regisseur

Liu Jian

Jahr

2023

Dauer

118 min.

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