Der Film setzt ein mit der „menschlichen Bombe“: Ein Song der Band „Téléphone“ aus dem Jahr 1979, vorgetragen von einem Patienten auf der „Adamant“, einer schwimmenden Tagesklinik mitten in Paris. Hier werden Menschen mit psychischen Problemen betreut. Der Sänger, sein Gesicht von keinem einfachen Leben gezeichnet, geht völlig auf in dem Lied: Es ist ein Moment der Selbstermächtigung, eine kraftvolle und sehr bewegende Sequenz gleich zu Beginn von SUR L’ADAMANT, dem einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb.
Regisseur Nicolas Philibert ist einer der profiliertesten Dokumentarfilmer Frankreichs, bekannt für Filme wie „Sein und Haben“ oder „Nénette“. Er begleitete und filmte Personal und Patienten der „Adamant“ über einen Zeitraum von sieben Monaten hinweg. Entstanden ist dabei eine beeindruckende Doku über ein Projekt, das einen dezidiert anderen Umgang mit psychisch kranken Menschen umsetzt: offen und integrativ, auf Augenhöhe; alle sind aktiver Teil einer Gemeinschaft. Zugleich ist der Film zudem ein respektvolles Porträt dieser Patienten.
Das Holzschiff mitten auf der Seine wirkt wie ein sicherer Ort für diejenigen, die sich dort aufhalten. Das Wasser, die umgebenden Bäume und Brücken markieren den Ort geradezu als Idylle. Was er natürlich nur bedingt ist. Die Menschen, die hierherkommen, haben große Probleme. Angststörungen, Schizophrenie, schwere Depressionen. In SUR L’ADAMANT stehen diese Diagnosen aber gerade nicht im Mittelpunkt. Wie es den Menschen geht, zeigt sich über das, was sie von sich erzählen, und über die Bilder des Miteinanders auf dem Schiff.
Alle hier sind Teil einer Gemeinschaft, bringen sich aktiv in den Tagesablauf ein. Sei es beim mühsamen Erstellen des Rechnungsbuches für die Einnahmen und Ausgaben, sei es bei den Workshops für Malerei, Tanz oder Fotografie – oder auch einfach beim Marmelade-Kochen. Alles wird hier gemeinsam geplant, entschieden und umgesetzt. Die Atmosphäre ist offen, ja herzlich, es wird viel gescherzt, „Neulinge“ werden schnell in die Gemeinschaft integriert. Viele der Patienten, führt der Regisseur auf der Pressekonferenz aus, machen nur bei einem oder zwei Workshops mit, andere nehmen mehrere Angebote wahr. Je nachdem, wie es ihnen geht, und was sie sich zutrauen können.
Die Kamera, geführt vom Regisseur selbst, ist im direkten Gespräch mit den Patienten Teil der Gemeinschaft – auch der Filmemacher und sein Begleiter werden von einer Patientin gleich zu Beginn neugierig ausgefragt. Gefilmt und befragt wurden natürlich nur diejenigen, die damit einverstanden waren. Philibert lässt bewusst nur die Patienten als Gesprächspartner zu Wort kommen, die Betreuer agieren natürlich auch mit, sie werden aber nicht direkt zu ihrer Situation befragt.
Es ist erstaunlich, wie reflektiert und klar die meisten der Patienten über ihre Situation sprechen. Ein Patient sagt, dass sie wohl wahrnehmen, dass andere Menschen oft vor Ihnen Angst haben, weil sie nur ihr Äußeres wahrnehmen, ein „kaputtes Gesicht“ beispielsweise. Dass sie aber „keine Terroristen“ seien, sondern „sehr fragile Personen“. Der Sänger der „menschlichen Bombe“ weiß sehr genau, dass er seine Medikamente nehmen muss, weil er sonst glaubt, er sei „Jesus im Himmel, mit fliegenden Englein drumherum“. Oder, dass er sonst verrückte Dinge tun könnte, wie in die Seine zu springen. Eine besonders offene, witzige und zugewandte Frau sagt, sie sei davon überzeugt, dass „Irrsinn kuriert werden kann“. Deshalb seien sie doch hier, oder? Ein junger Mann erläutert, dass er laute Geräusche meiden muss, weil sie ihm Angst machen.
Die Menschen kommen einem sehr nahe, und zugleich wird eine respektvolle Distanz gewahrt. Der Regisseur hat bewusst darauf verzichtet, die von ihm Porträtierten in sehr schlechten Momenten zu filmen: „Wenn Sie selbst schreien und delirieren, möchten Sie ja auch nicht, dass dabei jemand die Kamera draufhält“, sagt er in der Pressekonferenz. Ohnehin, so stellt das Team des Films in der Pressekonferenz klar, gebe es keine klare Grenze zwischen „Irrsinn“ und „Normalsein“ – alle Menschen hätten psychische Probleme, aber nicht bei allen werde das zu einem großen Problem, zur Krankheit, mit der sie nicht ohne Hilfe zurechtkommen.
Dennoch bleiben einige Fragen im Film offen: Was sind die Bedingungen dafür, als Patient auf der „Adamant“ einen Platz zu bekommen, außer der lokalen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Pariser Bezirk? Werden auch Menschen aus Kapazitätsgründen abgewiesen, die Teil dieser Idylle sein wollen? Es scheint so, als ob die Patienten stabil genug sein müssen, ihre Medikamente regelmäßig einnehmen müssen, Alkohol oder Drogen scheinen Tabu zu sein.
Teilweise beschleicht einen das Gefühl, dass sich Philibert ein wenig zu stark auf die Patienten fokussiert, die gute Erzähler sind, gute Selbstdarsteller. Vielleicht, weil sie so starke Bilder liefern. Dabei ist der Film oft am beeindruckendsten, wenn diejenigen zu Wort kommen, denen es eher schwerfällt, über ihre Geschichte zu sprechen. Die Schüchternen, Vorsichtigen. Man merkt dem Film an, dass das Filmteam das Vertrauen der Leute auf dem Schiff genießt, und dieses Vertrauen wird nicht missbraucht. An keiner Stelle fühlt sich der Film so an, als ob er die Patienten ausstellt. Er gibt ihnen Raum, und man kann sich selbst das eine oder andere zu dem Gesagten dazu denken, ohne dass es einem aufgedrängt wird.
Fotos: TS Production / Longride