Crossing Europe 2019

HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT - Best Documentary - Crossing Europe 2019

Thomas Heise steht am Mikrofon und hält den Preis (eine Schneekugel) in der rechten Hand und in der linken Hand die Urkunde
Regisseur Thomas Heise bei der Preisverleihung auf der Crossing Europe 2019
(© Michael Straub / subtext.at)

Thomas Heise wurde bei dem Linzer Filmfestival Crossing Europe für seinen neuesten Film ausgezeichnet. HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT bekam den Preis Bester Dokumentarfilm. In der Begründung der Jury heißt es:

"Wir vergeben den Social Awareness Award der 16. Ausgabe des Crossing Europe
Festivals an eine in jeder Hinsicht unangepasste, dichte und herausragende Arbeit, der es auf virtuose Weise gelingt uns zu entschleunigen und zeitgleich hellwache Konzentration herzustellen.

Historische Kontinuitäten finden sich mit vielfältigen Rissen und Brüchen persönlicher Biografien verschränkt zu einer immersiven Familien Saga. Es entstehen kontemplative Zeit- und Bildräume, die kollektive und individuelle Erfahrungen des letzten Jahrhunderts erfahrbar machen."

Als bester Spielfim wurde TCHELOVEK KOTORIJ UDIVIL VSEH (The man who surprised everyone) von Natasha Merkulova und Aleksey Chupov ausgezeichnet.

Crossing Europe 2019: SYLVANA, DEMON OR DIVA von Ingeborg Jansen

Filmdirector Ingeborg Jansen

Ingeborg Jansen ist sich nicht sicher. Wird ihr Dokumentarfilm auch außerhalb der Niederlande funktionieren? In den Niederlanden ist Sylvana Simons sehr bekannt, außerhalb der Niederlande aber weniger.

Nach 90 Minuten ist klar: SYLVANA, DEMON OR DIVA beeindruckt nicht nur die Zuschauer*innen beim IDFA Festival in Amsterdam sondern auch bei CROSSING EUROPE in Linz.

Sylvana Simon standing in front of a microphone.

Das Porträt der Politikerin und ehemaligen Moderatorin Sylvana Simons offenbart allgemeingültige Facetten in der gegenwärtigen politischen Kultur. Es zeigt u.a. wie eine starke Persönlichkeit darum kämpft, trotz Anfeindungen in sozialen wie traditionellen Medien fair, respektvoll und mit guten Argumenten die eigene Überzeugung zu vertreten.

Jansen filmt Simons während des Wahlkampfs für das Stadtparlament in Amsterdam. Sie ist Spitzenkandidatin der Partei BIJ1. Simons hat die Partei erst vor kurzem gründet. BIJ1 ist eine bunte Mischung aus Menschen unterschiedlicher alternativer Strömungen. Gemeinsam geht es Ihnen um die Überwindung von struktureller Diskriminierung und Rassismus.

Sylvana Simon sitting in a car looking through a window. It has a touch of lonliness.

Der Film arbeitet deutlich heraus, welchen Medienmarathon man derzeit bei einem Wahlkampf durchstehen muss. Dabei geht es sehr oft unfair zu. Immer wieder muss sich Simons mit Sexismus und Rassismus auseinandersetzen. Bewusst zeigt Jansen auch ein paar Situationen, in denen es der Politikerin dann nicht gelingt, die Fassung zu bewahren. Wie Simon aber hinterher diese Situationen und ihre Selbstzweifel reflektiert, ist bewundernswert. Es sind gerade diese Szenen, die den Dokumentarfilm glaubwürdig machen und den Zuschauer mitnehmen.

Am Ende des Films wünscht man sich eine Partei wie BIJ1 und Politikerin wie Sylvana Simons auch in Deutschland. Charismatisch, streitbar und intelligent versucht sie Menschen eine Stimme zu geben, die nicht nur mit dem Land verbunden sind, in dem sie leben und das für sie Heimat ist. Sehr passend läuft Jansens Dokumentarfilm in Linz in der Reihe EUROPEAN PANORAMA DOCUMENTARY. Es ist schön, dass in Europa auch positive Rollenvorbilder ausgetauscht werden können.

Crossing Europe 2019: Publikumsgespräch mit Thomas Heise zu HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT

thomas-heise-bei-crossing-europe-linz-2019.jpg


HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT sei kein therapeutischer Film, stellt Thomas Heise klar. Er ist nach Linz angereist, um seinen auf der Berlinale hoch gelobten Film selbst vorzustellen. Natürlich liegt die Frage nach Identitätssuche nahe. Schließlich geht es in 3 Stunden Film um Heises Familie. Aber der Dokumentarfilmer wollte ganz allgemein die Verschränkung von Biografie und Geschichte zeigen.

Das Ergebnis ist beeindruckend. Selten habe ich in einem Film die deutsche Geschichte so nah erfahren, insbesondere nicht als eine gesamtdeutsche Geschichte. Als dann eine Frage impliziert, dass es sich bei der Episode, die mit einem Brief von Christa Wolff beginnt, um eine DDR Episode handele, wird Heise hellhörig. Das ist ihm wichtig. Es gäbe keine DDR Episode. Auch dies sei eine deutsche Episode. Um das zu verdeutlichen, habe er die Briefe von Udo an Rosie in den Film mit aufgenommen. Berechtigterweise stellt er fest, dass die deutsche Geschichte nach 1945 aus BRD Sicht erzählt wird und die DDR Geschichte als ihr Anhängsel.

Obwohl Thomas Heise die Idee zum Film bereits seit vielen Jahren mit sich trägt, war ihm nicht klar, wie er die Geschichte erzählen würde. Erst am Schneidetisch sei die Erzählstruktur entstanden. Dies war auch gar nicht anders möglich. Er hatte eine große Kiste voller Briefe. Diese mussten erst einmal transkribiert werden. Ein Jahr habe dies gedauert. Die sich daran anschließende Arbeit vergleicht Heise mit dem Zusammensetzen von Scherben. Man versucht so gut es geht den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Dabei könne es schon sein, dass der Henkel ursprünglich auf der anderen Seite der Tasse gewesen sei oder dass die Tasse gar keinen Henkel gehabt habe. Darauf komme es aber nicht an. Das Gesamtbild zähle.

Crossing Europe 2019: DAS MELANCHOLISCHE MÄDCHEN von Susanne Heinrich

Susanne Heinrich sitzt nach der Vorstellung auf der Vorbühne und diskutiert mit einer Moderatorin von Crossing Europe über ihren Film. Das Bild ist in Schwarz-Weiss.

Der Abspann läuft. Regisseurin Susanne Heinrich tritt mit Mikro vor die Leinwand. Sie erklärt, warum sie bereits jetzt, noch während des Abspanns, mit der Q&A beginnt. Er dauert sieben Minuten. Durch diese Ausdehnung konnte sie die volle Filmförderung nutzen.

Der Ansatz ist exemplarisch für die Herangehensweise von Heinrich. Sich im System bewegen, aber unabhängig und kritisch. Eine herausfordernde Gegenspielerin sein, sich mit intelligentem Witz das, woran man verzweifelt, für sich nutzbar machen und es perspektivisch auf einen Punkt zuwenden, an dem irgendwann Utopien entstehen können.

Heinrich selbst spricht von "Produktiv machen von Unwohlsein". Ihre Protagonistin verzweifelt. Die von Marie Rathscheck auf den Punkt genau gespielte junge Frau verzweifelt an Rollenzuschreibungen, an Ansprüchen gegenüber sich selbst aber vor allen an Männern. Wenn zum Beispiel der Mann nach dem Sex das Kondom zuknotet und in den Papierkorb legt, dann macht sie dieser Professionalismus traurig. Traurig auch, dass sie bereits vor langem ein Buch angefangen hat, aber nicht über den Anfangssatz des zweiten Kapitels hinauskommt.

Filmstill aus dem Film 'Das melancholische Mädchen'. Die Protagonistin posiert im Profil an einer Fototapete mit Palmen, hat einen Pelzmantel an, unter dem sie nicht bekleidet ist, hält in ihrer rechten Hand eine Zigarette und spricht.

DAS MELANCHOLISCHE MÄDCHEN ist stilisiert, bunt ausstaffiert und in seiner absurden Wahrhaftigkeit durchgängig unterhaltsam. Die junge Frau spricht eintönig und monologisierend ihre melancholischen Gedanken direkt an ihren männlichen Mitspieler*innen vorbei. In der Überspitzung legt Heinrich die Un-Verhältnisse offen. Sie folgt damit keinem Geringeren als Bertolt Brecht, der den Verfremdungseffekt zu einem zentralen Bestandteil seines Theaters gemacht hat.

Der DFFB Abschlussfilm ist auch Heinrichs Spielfilmdebüt. Sie ist aber bereits lange aktive Kulturarbeiterin. Sie hat bereits zwei Romane und zwei Erzählbände veröffentlicht. 2005 war sie beim Bachmannpreis in Klagenfurt und 2011 Stipendiatin an der Villa Massimo.

Das merkt man in der Q&A nach dem Film. Die Regisseurin ist eloquent und es wird klar, wie nah ihr Film an aktuellen sozio-philosophischen Diskursen ist. Ein klarer Bezug sind z.B. die Arbeiten von Eva Illouz. Heinrichs Ansätze bleiben aber nicht nur Theorie. Sie setzt sie sowohl Filmproduktion als auch Filmstil praktisch um. So war 70% der Film-Crew mit Frauen besetzt und die Aufteilung des MELANCHOLISCHEN MÄDCHENS in Episoden folgt ihrem eigenen Aufruf, sich dem Ordnungsprinzip der Story zu widersetzen.

Susanne Heinrich ist eine politisch feministische Filmemacherin der neuen Generation. Sie hat keine Scheu alle Genres zu nutzen oder die Wirklichkeit mit einem Zuckerguss zu übergießen. Es sind ihre Mittel, um für die Zuschauer*in den Blick auf Muster freizulegen, die in ihrer gesellschaftlichen Wiederholung Frauen den Raum nehmen.

Wer mehr von Heinrich hören möchte, sollte am 29.4. nach Berlin kommen. Da organisiert sie an der DFFB die Konferenz KINO IN DEN ZEITEN DER KATASTROPHE.

Crossing Europe 2019: HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT von Thomas Heise

Heimat_ist_ein_Raum_aus_Zeit1.jpg

102 Jahre Familiengeschichte von 1912 bis 2014 erzählt Thomas Heise in seinem dokumentarischen Filmessay HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT in 218 Minuten. Das sind zwei beeindruckende Zeitspannen: drei Familiengenerationen und ein langer Abend im Kino. Es ist auch ein Film über fünf deutsche Staaten und politische Systeme: das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Bundesrepublik Deutschland (Mai 1949 bis Oktober 1990), die Deutsche Demokratische Republik (Oktober 1949 bis Oktober 1990) und die Bundesrepublik Deutschland nach dem 3. Oktober 1990. Heise erzählt in seinem Film jedoch keine große Geschichte, er schlägt keinen großen Bogen, sondern bleibt nah an seiner Familie. Es sind die persönlichen Schicksale, die wichtig sind. Auch beim dokumentarischen Material sind die privaten, kleinen Aufzeichnungen das Entscheidende: Es sind vor allem Briefe, aber auch Tagebuchaufzeichnungen oder Schulaufsätze, die das Textmaterial liefern. Die Textauszüge werden vom Regisseur selbst gelesen, was den familiären Bezug noch stärker macht.

Mehr: " Crossing Europe 2019: HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT von Thomas Heise " »

Crossing Europe 2019: SYSTEMSPRENGER von Nora Fingscheidt

System_klein_201913679_2.jpg

Es gibt Kinder, die fallen durch alle Raster der staatlichen Fürsorge. Sie akzeptieren keinerlei Regeln, sind unberechenbar, aggressiv und oft gewalttätig gegen sich und andere. Im Jargon der Erzieher gibt es ein Wort für diese Kinder – man nennt sie „Systemsprenger“. Die neunjährige Benni, Hauptfigur sowie höchst energetischer Dreh- und Angelpunkt in Nora Fingscheidts Wettbewerbsbeitrag SYSTEMSPRENGER ist ein solches Kind. Sie prügelt sich ohne Rücksicht auf sich selbst und andere, ist wahnsinnig anstrengend, greift alles und jeden an, sobald sie nicht ihren Willen bekommt, und will doch eigentlich nur zurück zu ihrer Mutter. Die allerdings ist heillos von diesem wilden Wesen überfordert und stielt sich immer wieder aus der Verantwortung – letztlich hat sie geradezu Angst vor ihrer eigenen Tochter. Welche Chancen, so fragt Fingscheidts Film, haben solche Kinder, das zu bekommen, was sie sich so sehnlich wünschen: Liebe und Geborgenheit?

Mehr: " Crossing Europe 2019: SYSTEMSPRENGER von Nora Fingscheidt " »

Impressum