Es gibt Kinder, die fallen durch alle Raster der staatlichen Fürsorge. Sie akzeptieren keinerlei Regeln, sind unberechenbar, aggressiv und oft gewalttätig gegen sich und andere. Im Jargon der Erzieher gibt es ein Wort für diese Kinder – man nennt sie „Systemsprenger“. Die neunjährige Benni, Hauptfigur sowie höchst energetischer Dreh- und Angelpunkt in Nora Fingscheidts Wettbewerbsbeitrag SYSTEMSPRENGER ist ein solches Kind. Sie prügelt sich ohne Rücksicht auf sich selbst und andere, ist wahnsinnig anstrengend, greift alles und jeden an, sobald sie nicht ihren Willen bekommt, und will doch eigentlich nur zurück zu ihrer Mutter. Die allerdings ist heillos von diesem wilden Wesen überfordert und stielt sich immer wieder aus der Verantwortung – letztlich hat sie geradezu Angst vor ihrer eigenen Tochter. Welche Chancen, so fragt Fingscheidts Film, haben solche Kinder, das zu bekommen, was sie sich so sehnlich wünschen: Liebe und Geborgenheit?
Nora Fingscheidt hat sich für ihr preisgekröntes Drehbuch lange und ausgiebig in deutschen Fürsorgeeinrichtungen umgesehen und dort auch mitgearbeitet. Man merkt dem Film an, dass sie weiß, wovon sie erzählt. Die kleine Helena Zengel trägt als flackerndes, explosives, aber auch zutiefst verletzliches Energiebündel den Film durch die gesamten 118 Minuten – wobei man sich dennoch gewünscht hätte, dass die Regisseurin die eine oder andere Plot-Volte dann doch gestrichen hätte. Denn spätestens nach dem fünften Rückfall haben wir verstanden, was hier vermittelt werden soll.
Erschütternd ist, dass das kleine Mädchen trotz dreier sehr engagierter und wohlmeinender Figuren nicht die Kurve kriegt: Gabriela Maria Schmeide spielt die Sozialarbeiterin mit (fast) unerschütterlicher Kraft und Energie, Albrecht Schuch gibt den hemdsärmeligen Schulbegleiter, der durch seine Erfahrung mit kriminellen Jungs einen erstaunlich guten Draht zu der keinen Benni aufbauen kann, und eine ehemalige Pflegemutter versucht, dem Mädchen mit einer Mischung aus Wärme und klaren Regeln, eine dringend benötigte zweite Chance zu geben.
Wie kann man einem Kind, das noch nie erlebt hat, dass Vertrauen sich auszahlt, beibringen, sich an Abmachungen zu halten? Wie kann man einem kleinen Wesen, dessen Seele eine offene Wunde zu sein scheint, klar machen, dass es anderen Menschen nicht wehtun darf? Wie kann man diesen Kindern Sorgsamkeit gegenüber sich und anderen beibringen?
Trotz des quasi-dokumentarischen Charakters des Films legt Fingscheidt viel Wert darauf, die Gefühlswelt von Benni in eine fantasievolle künstlerische Filmsprache zu übersetzen: Den Aggro-Attacken geht stets ein wilder Strudel aus Bildern, Farben und Erinnerungen voraus, die schrille Tonspur tut dabei in den Ohren weh und versucht, dieses „rote Lämpchen“ im Kopf für die Zuschauer körperlich erfahrbar zu machen. Die Freude, die wie eine Sonne im Gesicht von Benni aufzieht, seltene Momente der Entspannung und Zärtlichkeit zeigen dann aber auch wieder ganz andere Facetten dieses Kindes. Facetten, die Hoffnung machen.
SYSTEMSPRENGER ist ein anstrengender Film und gewiss keine leichte Abendunterhaltung. Er liefert auch keine einfachen Antworten, wirft aber wichtige und dringliche Fragen auf. Fragen die dringend ernst genommen werden müssen.
Fotos: © kineo Film / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer