Berlinale 2024: BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR (ON PROBATION) von Herrmann Zschoche

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© Waltraut Pathenheimer / DEFA Stiftung

Aus den Rubriken "endlich gesehen" und "Live-Kommentar im Kino"

In meiner persönlichen Rubrik „endlich gesehen“ (und dazu noch auf der Kino-Leinwand!) nimmt neben ENGEL AUS EISEN (1980) von Thomas Brasch nun auch der DEFA-Film BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR (1981) von Herrmann Zschoche mit der großartigen Katrin Sass einen Ehrenplatz ein.

Es ist beeindruckend, wie vielschichtig und mutig der Film die Nöte einer jungen alleinerziehenden Mutter in Ostberlin schildert, die Gefahr läuft, das Sorgerecht für ihre drei Kinder zu verlieren. Mit der Unterstützung zweier (von den Behörden als „sozial“ und wohl auch politisch zuverlässig eingestuften) Bürge(r)n aus der Nachbarschaft soll ihr noch einmal eine Chance gegeben werden, sich als gute Mutter zu bewähren. Die verschiedenen Perspektiven und Lebensrealitäten der Mutter, der Kinder und der Bürgen werden glaubhaft dargestellt, durchaus mit Witz, aber auch mit bitterem Ernst. Seine Premiere hatte der Film in der DDR und in der Bundesrepublik 1982 auf der Berlinale. Dort wurde Katrin Sass mit dem Silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet.

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© Waltraut Pathenheimer / DEFA Stiftung

Neben Sass spielen eine Reihe weiterer hervorragender Schauspieler:innen mit, unter anderen Monika Lennartz, Jaecki Schwarz (Hauptkommissar Schmücke im Polizeiruf), Jan Spitzer, Dieter Montag, Christian Steyer, Heide Kipp und Angelika Mann. Und wer genau hinschaut, entdeckt auch einen sehr jugendlichen Kommissar Brunetti (Uwe Kockisch) als trinkfreudigen Hallodri in der Eckkneipe.

Was der Film nicht zeigt, weil er sonst nie von der DDR-Filmzensur freigegeben worden wäre, sind die wahren Schattenseiten dieser Geschichte: wie in der DDR Biografien von Menschen zerstört wurden, die als „asozial“ eingestuft wurden und entsprechend „behandelt“ wurden, und auch die teilweise unguten Zustände in dortigen Kinderheimen und im Erziehungssystem generell werden allenfalls angedeutet. Sexueller Missbrauch an Kindern kommt nur, und auch nur, wenn man es wirklich sehen will, zwischen den Zeilen vor. Dass Kinder eigentlich am glücklichsten in einer Familie sind, man sie aber manchmal vor den eigenen Eltern schützen muss, ist ein schwieriges Thema, das – nicht nur in Bezug auf die DDR, hier aber unter besonderen Vorzeichen – bis heute kontrovers diskutiert wird.

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© Waltraut Pathenheimer / DEFA Stiftung

BÜRGSCHAFT FÜR EIN JAHR Film lief auf der diesjährigen Berlinale im Kino International im Anschluss an die Verleihung des Heiner-Carow-Preises der DEFA-Stiftung an die Produktion IVO (In der Sektion Encounters). Als einer von mehreren Filmen lief er im Rahmen der Inklusion auf der Berlinale mit Audiodeskription für blinde und sehbehinderte Menschen, die über die App GRETA (ähem, müssen sie wohl demnächst mal umbenennen) angeboten wurde.

Ich selbst nutzte während des Films zwar keine Audiodeskription, dafür lief links neben mir ein ganz persönlicher Kommentar zum Film. Ein netter älterer Herr kommentierte, teilweise sehr witzig und erfrischend ungehemmt, in der ersten halben Stunde das Geschehen auf Leinwand. Er war, wie ich im kurzen Geplauder vor dem Film von ihm erfahren hatte, selbst als Kind in der DDR in einem Kinderheim gewesen. Schön sei das nicht gewesen, so sagte er mir. Jetzt ist er in einem Verein ehemaliger DDR-Heimkinder engagiert, gemeinsam werden Ausflüge unternommen und auch über die eigene Vergangenheit geredet. Das gefällt ihm sehr. Das sind Begegnungen, für die es sich immer noch lohnt, vom Sofa aufzustehen und ins Kino zu gehen.

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Titel

Orignaltitel

Bürgschaft für ein Jahr

Englischer Titel

On Probation

Credits

Regisseur

Herrmann Zschoche

Jahr

1981

Dauer

94 min.

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