Berlinale 2022 - Liebes Tagebuch oder: ratlos vor der Bärenfrage

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Foto: Dirk Michael Deckbar / Berlinale 2014

Auf keiner Berlinale stand ich bislang so ratlos vor der Bärenfrage wie in diesem Jahr. Zum einen, ich muss es gestehen, habe ich es nicht geschafft, alle, oder wenigstens fast alle Wettbewerbs-Filme zu sehen. Irgendwie fehlte mir dazu der Drive, auch die lieben Kolleginnen und Kollegen an der Seite, die einen sonst einfach mitziehen. Viele waren gar nicht erst angereist. Und meine Kinokollegenkumpels, die da waren, saßen nicht neben mir – weil die Sitzplatzvergabe online erfolgte. Ich will jetzt gar nicht rumheulen und bin durchaus in der Lage, mich bei Bedarf auch mit mir unbekannten Menschen neben mir über Filme auszutauschen. Tatsächlich habe ich das auch schon ein, zweimal im Leben getan. Aber früher war eben mehr Lametta.

An manchen Tagen bin ich schlicht und ergreifend an der dreifachen T-Logistik (Tickets ziehen, Tests besorgen, Texte schreiben) plus Filmegucken gescheitert. Fühlte sich irgendwie alles ein bisschen anstrengender an als sonst.

Zum anderen habe ich in diesem Jahr – anders als es mein meinungsfreudiges Ich gewohnt ist – leider keinen wirklichen, eindeutigen, persönlichen Bären-Favoriten für mich entdeckt. Klingt komisch, ist aber so.

Was alles nicht heißen will, dass ich die Berlinale nicht trotzdem genossen hätte. Es gab solide und experimentierfreudige, schöne und verstörende Filme – und einige davon waren aus meiner Sicht im Wettbewerb auch genau richtig aufgehoben. Aber. Mein Lieblingsfilm lief in der Reihe Encounters, ein anderer Favorit in der Reihe Perspektive Deutsches Kino.

Nach dieser kleinen Vorrede gebe ich hier trotzdem mal meine Wunschbären ab:

Goldener Bär für den Besten Film (an die Produzent*innen)
AEIOU – DAS SCHNELLE ALPHABET DER LIEBE

Silberner Bär Großer Preis der Jury
Ulrich Seidl für RIMINI

Silberner Bär Preis der Jury
Batara Goempar, Director of Photography in NANA

Silberner Bär für die Beste Regie
Hong Sangsoo für SE-SEOL-GA-UI YEONG-HWA

Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle
Sophie Rois in AEIOU oder Denis Ménochet in PETER VON KANT oder Michael Thomas in RIMINI (in dieser Reihenfolge)

Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle
Valeria Bruni Tedeschi in LA LIGNE

Silberner Bär für das Beste Drehbuch
Paolo Taviani für LEONORA ADDIO

Silberner Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung
Rithy Panh für die Tonfiguren und Dioramen in EVERYTHING WILL BE OK

Heute Abend wissen wir mehr.

Tschüss.

Kommentare ( 3 )

Damit hast Du sehr schön die Stimmung beschrieben, wie auch schon vorher die Filme. Durch Eure Berichterstattung wurden wir aus der Ferne mehr als nur ein wenig mitgenommen. Es leuchtete ein dünnes dunkelrotes Bändchen zwischen Berlin und München.

Da habe ich gerne in Kauf genommen, dass es den Schmerz, nicht dabei zu sein, in einer anderen Ecke auch verstärkt hat. Ist sowieso kompliziert, da die Situation so ein Ding zwischen eigener Entscheidung und äußeren Umständen ist.

Mit räumlichem Abstand betrachtet hatte die Berlinale bei aller positiven Trotzigkeit auch was Trauriges gehabt. Ich bin noch immer zwiegespalten, was ich von der Entscheidung, das Festival "so" und nicht anders stattfinden zu lassen, halten soll. Es sollte ein Zeichen für das Kino und ein Solidaritätsakt mit dem Arthouse Kino sein. War es dann auch. Hat man ja an den vielen Dankensbekundungen bei der Eröffnung und bei der Preisverleihung gemerkt. Aber ein Filmfest trägt ja nicht umsonst das Wort "Fest" im Namen. Fest ist Ausgelassenheit, Feiern, eine flirrende Spannung, die in der Luft liegt. Für Akkreditierte ist z.B. dieses besondere Gefühl, wenn man im Hyatt die Stufen zur Pressekonferenz hochgeht, und von allen Seiten durch hektische Journalisten und Filmleute mit einer Akkuladung von 200% fast umgerannt wird. Draußen hört man dann plötzliche Teenie Geschrei, weil Robert Pattinson durch einen Nebeneingang des Hyatts zur Pressekonferenz will. Diese Festlichkeit scheint dieses Jahr nicht da gewesen zu sein, aber wie kann ich das beurteilen?

Auf jeden Fall finde ich, dass die Berlinale die Chance vergeben hat, das Festival h zumindest hybrid stattfinden zu lassen. Genug Vorbilder gibt es ja inzwischen. Verstehe schon...der Standort Berlin mit einer berlinernden Franziska Giffey muss erhalten werden. Aber Berlin und die Berlinale sind mehr als etwas Physischen. Beide müssen und werden ihren Platz auch im digitalen Raum finden. Es wäre auch ein Zeichen gewesen, die Berlinale wenigstens einen Spalt breit für Online-Teilnehmer*innen Zugang zu öffnen. Das hätte die Berlinale durchlässiger gemacht und auch jenen einen Teilhabe ermöglicht, die nicht kommen konnten oder wollten. Perspektivisch hätte man da sowieso auf der richtigen Seite gelegen. Es ist schwer zu glauben, dass die Filmcrowd zukünftig in dem Ausmaß um die Welt jettet, wie noch vor 2020. Das Homeoffice wird bleiben, aber die Berlinale verlangt für immer Präsenz?

Es ist gerade nicht die Zeit für klare Antworten. Man schlägt sich halt jetzt seit zwei Jahren mit Situationen herum, die so noch nie da gewesen ist, und dann muss man sich dazu halt irgendwie verhalten. Trotzdem habe ich aus der Ferne SEHR Mut und Experimentierfreude vermisst, neue Wege zu gehen.

Völlig d'accord, lieber Andreas. Sehe ich ganz genau so.

Hier noch ein Nachklapp, die Antwort der Berlinale-Pressestelle auf meine gestrige Anfrage zu den Zahlen:

Anzahl akkreditierte Journalist:innen bei der Berlinale 2020, 2021 und 2022

2020: 3.447 Pressevertreter:innen

2021: Industry Event: 1.177 Pressevertreter:innen
Summer Special: 447 Pressevertreter:innen

2022: Abgeholte Pressevertreter:innen-Badges: ca. 1400

Verkaufte Tickets Berlinale 2020 und 2022 (Zwischenstand jetzt)

2020: 330.681

2022: annährend 100.000 verkaufte Tickets

Das bedeutet, dass beim reinen "Streaming-Berlinale-Festival" 2021 fast genauso viele Journalist:innen über das Festival (im Winter) berichtet haben wie in diesem Jahr.

Die verkauften Tickets 2020 uns 2022 kann man natürlich jetzt noch nicht vergleichen, der Rest der Woche ist ja noch Publikumsfestival. Tendenz ist trotzdem klar.

Insofern - zuallererst noch einmal: Respekt, was das Berlinale-Team unter diesen Umständen, auch was das Hygiene- und Schutzkonzept anging, auf die Beine gestellt hat.
Aber Hybrid, zumindest für Berichterstattende, wäre wirklich gut gewesen (für den Markt funktionierte das ja auch).
Und ja, ich denke, dass auch das "nromale" Publikum unter diesen Umständen sicher eine Hybrid-Veranstaltung goutiert hätte.

Und nach wie vor denke ich: Ein potentielles Superspreader-Event (nicht unbedingt auf dem totalkontrollierten Festivalgelände selbst, aber infolge des Drumherum) stattfinden zu lassen, zu einer Zeit, als die Zahlen in Berlin noch mehr oder minder auf dem Höchststand waren - wirklich zwiespältig.
Aber, wie heißt es jetzt so schön: Eigenverantwortung ist die neue Vorschrift.

Mal sehen, was nächstes Jahr so Sache ist.

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