Foto: Jakob Reinhardt
Wo liegt der Hund begraben?
Natalia Sinelnikova hat in Babelsberg Filmregie studiert. Ihr Abschlussfilm WIR KÖNNTEN GENAUSO GUT TOT SEIN eröffnet die Reihe "Perspektive Deutsches Kino" auf der diesjährigen Berlinale.Mutter, Vater, Kind in der Mitte, alle gut gekleidet, laufen gehetzt durch ein Waldstück. Halten sich an den Händen. Blicken sich immer wieder um, wie auf der Flucht. Was ist da los? Warum hat der Vater ein Beil in der Hand? In der Ferne taucht ein futuristisch anmutendes Hochhaus auf. Das Ziel. Hier ist die Familie in Sicherheit. Oder doch nicht?
Natalia Sinelnikovas Film WIR KÖNNTEN GENAUSO GUT TOT SEIN setzt ein wie ein Thriller, spielt mit Gruseleffekten, und bewegt sich schwindelfrei am Rand des Absurden und Tragischen, kippt immer wieder stilsicher um in Momente schwarzen Humors. Das gekonnte filmische Erzählen und die ganz eigene - und eigenwillige - cineastische Handschrift haben das Auswahlgremium der Berlinale offensichtlich überzeugt. Sinelnikovas Master-Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg - Konrad Wolf wurde ausgewählt, die Reihe "Perspektive Deutsches Kino" in diesem Jahr zu eröffnen. Was muss das für ein Motivations-Booster für eine junge Filmemacherin sein! Die 32-jährige Regisseurin formuliert es professioneller, sie sagt, es sei „eine sehr große Ehre und Bestätigung für die eigene Arbeit“.
Dreh- und Angelpunkt des Films ist besagtes Hochhaus, eine vermeintlich sichere Festung inmitten einer – nicht näher definierten – bedrohlichen Umgebung. Hier wohnen zu dürfen ist ein Privileg. Es wird streng ausgewählt, wer rein darf. Wer "dazu gehört". Anna und ihre 16-jährige Tochter Iris gehören nur so halb dazu. Sie kommen aus Osteuropa, und man weiß ja, was das für welche sind. Doch ausgerechnet die argwöhnisch beäugte Osteuropäerin Anna sorgt in ihrer blauen Wachuniform rund um die Uhr dafür, dass sich die Hausgemeinschaft sicher fühlen kann. Tochter Iris wiederum hat eine sehr schöne Stimme, was für den sektenartigen Singekreis der Hausgemeinschaft von großem Wert ist. Die künstlerische Begabung der Tochter, der Knochenjob der Mutter: Das sind die Eintrittskarten für Mutter und Tochter ins Hochhaus. Recht klassische Eintrittskarten für Migranten. Wie schnell so eine Eintrittskarte verfallen kann, das erzählt der Film.
Ein junges Mädchen schließt sich über Tage hinweg im Bad ein und ein Hund verschwindet. Der Zusammenhang? Den gibt es nicht, und genau das ist der Punkt. Das Gefühl einer diffusen Bedrohung durchdringt allmählich den "safe space". Eine Bürgerwehr mit Golfschlägern (!) gründet sich. Fröhlich werden unterschiedliche perfide Mechanismen der Ausgrenzung durchexerziert. Wie Natalia Sinelnikova erklärt, wird nun die "Macht der Angst als selbstreproduzierendes System" deutlich. Anders ausgedrückt: Der Film zeigt uns, wo in unserer Gesellschaft – oder vielmehr in jeder Gesellschaft, die sich allzu sehr durch Angst und Abgrenzung definiert – der Hund begraben liegt.
Aber keine Angst, es handelt sich hier nicht um ein moralinsaures Lehrstück: Der Film ist spannend, sinnlich, spielerisch, oft absurd komisch und dann wieder zutiefst tragisch. Ein großartiges Schauspielerensemble rund um Ioana Iacob (Anna), Şiir Eloğlu (Hochhaus-Chefin) und Jörg Schuttauf (Hausmeister und Besitzer des verschwundenen Wauwaus) macht den Film zusätzlich sehenswert. Aber die wahre Hauptperson ist das (alb-)traumhafte Hochhaus selbst.
Natalia Sinelnikova ist selbst in einem Hochhaus aufgewachsen. Zweimal sogar. Die ersten sieben Lebensjahre verbrachte sie in einer Hochhaussiedlung am Rand von Sankt Petersburg. Als russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge immigrierte die Familie Mitte der 1990er Jahre nach Deutschland. Nach einer ersten Station in Niedersachsen, ging es für Natalia und die Eltern ins Märkische Viertel in Berlin-Reinickendorf. In die nächste "Platte", wie sie sagt. Und da fing es für die Teenagerin dann richtig an, das Gefühl, "nicht richtig dazu zu gehören".
"Die meisten meiner Mitschüler wohnten in Einfamilienhäusern, es war für mich ganz neu, dass es ein sozialer Makel sein kann, in einer Platte zu wohnen. In Russland war das ganz normal, da waren die Menschen sogar froh, wenn sie in einem modernen Hochhaus leben durften." Im Osten Deutschlands auch, nebenbei bemerkt, aber das wusste die zwölfjährige Natalia, zugleich jüdisch, russisch, deutsch und mittlerweile pubertierend in Reinickendorf, damals nicht. Und wenn, dann hätte es ihr vermutlich auch nicht weitergeholfen. Das Heimweh und die Sehnsucht nach den vertrauten Dingen aus ihrer Kindheit hatte sie schon früh mit einem intensiven Filmkonsum kompensiert – vorwiegend russische Komödien und Abenteuerserien.
Nach einem Studium der Kulturwissenschaft bog sie ab in Richtung Filmregie – zu einem Bachelor mit anschließendem Master in Babelsberg. Dort hat sich für die junge Frau ein kreativer und persönlicher Knoten gelöst, wie sie rückblickend sagt, "indem ich aufgehört habe, dazu gehören zu wollen, und stattdessen angefangen habe, meine eigene Stimme zu finden". Wenn sie von dem Filmregiestudium in Babelsberg erzählt, leuchten ihre Augen: die Inspiration durch die Dozenten, die kreative Gemeinschaft mit den Mitstudierenden, die Freiheit, sich auszuprobieren und zugleich "ein solides Handwerk zu lernen".
Natalia Sinelnikova, das merkt man schnell, ist hochkonzentriert, wenn es um ihre Arbeit geht, und ein echte Teamplayerin. Es ist ihr wichtig, den Beitrag ihres Teams, Crew wie Schauspieler, zum Gelingen von WIR KÖNNTEN GENAUSO GUT TOT SEIN zu würdigen: Der Ko-Autor Viktor Gallandi etwa, mit dem sie eine jahrzehntelange Freundschaft verbindet, der Kameramann Jan Mayntz, die Szenografin Elisabeth Kozerski, oder Maxi Menot und Michael Kondaurow, zuständig für die Musik im Film, zum größten Teil selbst komponiert. Die durch Corona geprägten Drehbedingungen im November 2020, unter anderem in Marzahn und auf dem Golfplatz in Gatow, waren eine echte Herausforderung: "Es hätte in jedem Moment passieren können, dass die Pandemie den ganzen Dreh lahmlegt – wir waren super diszipliniert und haben so sehr für den Film gekämpft, dass wir dadurch sehr eng zusammengewachsen sind."
Eine andere Art der Gemeinschaft also, die auf anderer Basis zusammenhält als die Hochhaus-Sekte. Und wie reagiert das junge Mädchen im Film-Hochhaus auf den Druck von außen? Iris sitzt im Bad, zwingt dadurch ihre Mutter Anna, sich in Plastikschüsseln zu waschen, oder heimlich in leer stehenden Wohnungen, und, wenn es mal pressiert, schon mal ins Waschbecken zu pinkeln.
Warum sie das tut? Iris ist überzeugt davon, sie habe den bösen Blick und könne damit schlimme Dinge auslösen, "da draußen". Hat sie das unausgesprochene, aber immer mitschwingende Misstrauen der Hausgemeinschaft gegenüber den "fremden" Frauen internalisiert? Schaut sie also mit "deren" Augen auf sich, die "Fremde"? Diese Lesart legt die Frage nahe: Wer also hat wirklich den „bösen Blick“? Eine interessante Frage. Und nicht die einzige, die der Film auf durch und durch überzeugende Weise stellt.
Filmstills: Jan Mayntz, HEARTWAKE films