Berlinale 2022: KEIKO, ME WO SUMASETE (SMALL, SLOW, BUT STEADY) von Shô Miyake

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Das sind die Momente, die ein Filmfestival besonders machen: Shô Miyakes KEIKO, ME WO SUMASETE (SMALL, SLOW, BUT STEADY) ist eine echte Entdeckung auf der diesjährigen Berlinale. Der 1984 in Sapporo geborene Regisseur erzählt darin die Geschichte von Keiko (Yukino Kishii), einer gehörlosen jungen Frau aus Tokio, die trotz aller Widrigkeiten auf dem Weg zur Profiboxerin ist. Ein kleiner, schäbiger Boxclub um die Ecke ist ihre zweite Heimat, der ältere Betreiber des Klubs gibt ihr Halt und fordert sie zugleich. Doch dann ändern sich schleichend, fast unmerklich, kleine Dinge in ihrem Leben und Keiko kommt ins Wanken – im Ring ebenso wie im eigentlichen Leben. Was will sie wirklich? Ist der Kampf in Boxhandschuhen womöglich eine Flucht vor den wahren Herausforderungen des Lebens? Wohin soll ihr Weg sie führen?

Man kann sich viele Möglichkeiten vorstellen, diese Geschichte als Film falsch anzupacken. Die Fettnäpfchen sind offensichtlich: Pathos, Peinlichkeit, Unglaubwürdigkeit. Miyake vermeidet jeden einzelnen dieser Fehler, mehr noch, er macht alles genau richtig. Obwohl der Film, der in der Reihe Encounters gezeigt wird, nur 99 Minuten lang ist, hat man das Gefühl, tief in den Mikrokosmos um Keiko, ihre Familie und die Ersatzfamilie im Boxstudio einzutauchen. Diese Menschen erscheinen einem am Ende sehr vertraut. Alle müssen sie mit Veränderungen zurechtkommen – die Trainer fürchten die bevorstehende Schließung des Studios, der Inhaber des Klubs (Tomokazu Miura) ist kränker als er sich eingestehen will, Keikos Mutter hat jedes Mal furchtbare Angst um ihre Tochter, wenn sie für Profikämpfe in den Ring steigt. Denn Keiko kann weder den Ringrichter hören, noch den Rundengong oder das Abzählen der verbleibenden Sekunden – was große Risiken birgt.

Die Angst der Boxerin vor Nähe

Verständigen kann sich Keiko nur über Schrift, Lippenlesen oder Gebärdensprache. Das Maskentragen aufgrund der Pandemie – die ist hier bereits als Alltag im Film angekommen – erschwert die Kommunikation noch zusätzlich. Aber Keiko kommt zurecht – sie bewegt sich souverän auf der Straße und im Supermarkt, obwohl es ständig zu kleinen Missverständnissen und Irritationen kommt, die sie meist einfach ignoriert. Die Arbeit als Zimmermädchen verrichtet sie souverän, scheint im Kreis ihrer Kollegen beliebt. Mit ihrem Bruder, einem sympathischen Schluffi, der eher der Musik als dem Sport zugeneigt ist, teilt sie sich eine kleine Wohnung und unterhält sie sich in Gebärdensprache. Die beiden gehen sehr vertraut miteinander um, wie es unter Geschwistern typisch ist. Trotzdem ist die junge Frau weit davon entfernt, ihm, oder sonst jemandem, ihre Schwächen, Zweifel oder Unsicherheiten zu zeigen.

Boxtraing als Synchron-Choreografie

Sehr viel Zeit verwendet der Film darauf, Keikos Training zu zeigen, ihre tägliche Routine. Über alle Trainingseinheiten führt sie akribisch Buch. Morgens joggt sie zehn Kilometer, abends stemmt sie schwitzend und bis zur Erschöpfung Gewichte, traktiert den Sandsack und übt mit ihren Trainern im Ring immer und immer wieder bestimmte Schlagkombinationen, bis ihr Körper die dafür notwendigen Reflexe verinnerlicht hat. Wenn das passiert, strahlt Keiko übers ganze Gesicht. Dann ist sie mit sich im Reinen. Andere wichtige Bewegungsabläufe bringt der Trainer ihr bei, indem sie diese nebeneinander – wie zwei Tänzer in einer Choreographie – synchron absolvieren. Durch dieses körperliche Vertrauen aufeinander entsteht, völlig asexuell, eine Nähe, die Keiko ansonsten nicht zulässt. Letztlich ist dieser ältere Mann der Einzige, der ihr bei ihrer Entscheidung helfen kann und darf. "Du kannst nicht siegen, wenn Du den Gegner nicht vernichten willst", sagt er ihr einmal. Und wenn sie diesen Push nicht mehr spüre, dann werde es im Ring gefährlich: "Dann musst Du aufhören." Der Film begleitet Keiko dabei, herauszufinden, ob sie diesen Drang weiterhin spürt und spüren will.

Filmstill: 2022 « KEIKO ME WO SUMASETE » Production Committee & COMME DES CINEMAS

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Titel

Orignaltitel

Keiko, me wo sumasete

Englischer Titel

Small, Slow But Steady

Credits

Regisseur

Sho Miyake

Schauspieler

Yukino Kishii

Shinichiro Matsuura

Masaki Miura

Tomokazu Miura

Hiroko Nakajima

Himi Sato

Nobuko Sendo

Jahr

2022

Dauer

99 min.

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