Skandal, Sandal! So raunte es in Erwartung von Lars von Triers neuem Film NYMPHOMANIAC VOLUME I, weil darin jede Menge expliziter Sexszenen zu sehen sein sollten, die aus der Perspektive einer Nymphomanin geschildert werden. Vom Skandal ist nicht viel übrig geblieben. Es gibt zwar viel Sex in dem Film, dessen Director’s Cut im Wettbewerb läuft, aber besonders sinnlich oder gar verstörend ist das alles nicht. Stattdessen führt uns von Trier auf durchaus komische und unterhaltsame, aber gleichzeitig bitterböse zynische Weise vor, was passiert, wenn Sex, von Emotionen abgekoppelt, zur Sucht wird. Und vor allem: Wie hervorragend dieses Modell von Lustbefriedigung in die heutige Gesellschaft passt.
Die Erzählerin und Hauptfigur, Joe, gespielt von Charlotte Gainsbourg, wird in einer verschneiten Nacht in einem Hinterhof zusammengeschlagen. Der menschenfreundliche ältere Herr Seligman (Stellan Skarsgard) sammelt sie auf, gibt ihr ein Bett für die Nacht und lässt sich ihre Geschichte erzählen. Die handelt von einem liebevollen Vater, der ihr stundenlang Geschichten von Eschen und Linden erzählt, und einer gefühllosen Mutter, die sich einzig für ihr Patience-Kartenspiel interessiert, von dem unendlichen Gefühl der Einsamkeit, und davon, dass sie schon als Teenager möglichst viele Geschlechtsakte mit möglichst vielen Männern anhäufte.
Vor allem in den frühen Sexszenen, in denen Joe von Stacy Martin gespielt wird, hat man kaum das Gefühl, dass der Sex der jungen Frau wirklich Lust verschafft. Hier geht es vielmehr um ein Pensum, das erledigt werden muss. Und es geht um Macht – denn Joe und ihre Teenager-Freundinnen erkennen schnell, dass Sex ein hervorragendes Mittel ist, um Männer zu manipulieren. In einer Szene wetteifern Joe und ihre Freundin darum, wer auf einer Zugfahrt die meisten Männer (ins Klo) abschleppt. Deprimierend primitiv sind ihre Anmach-Methoden, und deprimierend primitiv reagieren die Kerle auf den Köder. Die Siegerin, Joe, erhält als Preis eine Tüte mit Schokolinsen. Gewinnmaximierung (egal, ob die Währung Geld oder Sex ist), Machtausübung, absolute Egomanie: Joes Sexsucht zeigt dieselben Merkmale, mit denen unsere moderne Gesellschaft so oft beschreiben wird. Wie Joe an einer Stelle sagt: „Diese Geschichte ist lang und moralisch.“ Und man sollte sich trotz des leichten Tons nicht darüber hinwegtäuschen: Auch von Triers Blick auf die Geschichte ist ein höchst moralischer.
Während Joe erzählt, bemüht Seligman Vergleiche aus der Philosophie, aus der Biologie, der Literatur und der Mathematik, um das Erzählte zu deuten: Die Anzahl der Stöße, mit denen Joe entjungfert wird, sind (vaginal und anal) jeweils Fibonacci-Zahlen, die Vielschichtigkeit ihrer Lover fügt sich zu einem Gesamtbild zusammen, wie es der polyphone „Cantus Firmus“ von Bach tut, und die Ködertaktiken der jungen Frau haben einiges mit dem Fliegenfischen gemein. Split-Screens und übergeblendete Zahlen und Grafiken verdeutlichen, dass Joes Erzählung permanent analysiert wird. Mitunter sind diese Analogien bemüht komisch, manchmal aber tatsächlich einfallsreich und lustig.
Nummerierte Schwanzparaden, Lover, die mit Wildkatzen verglichen werden, Masturbation in der vollbesetzten Straßenbahn: Das sind dagegen Szenen, in denen man sich fragt, ob von Trier uns hier genüsslich unsere Sucht nach Skandalisierung vor Augen hält. Nachdem der Film mit Dunkelheit und wummernden Rammstein-Beats begonnen hat, wird er schnell sehr leicht und quasi-komödiantisch. Wo bleibt das Düstere? Es fehlt komplett, abgesehen von einer langen und völlig aus dem Ton des übrigen Films fallenden Sterbeszene. Aber vielleicht ist die Dunkle Seite ja für Volume II aufgespart. Wirklich wunderbar, weil einzigartig, absurd und unglaublich komisch ist eine Szene, in der Uma Thurman als sitzen gelassene Mutter von drei kleinen Jungs ihren Nachwuchs zur Konkurrentin mitschleppt und den Kindern, um spätere Therapiesitzungen optimal vorzubereiten, die Lage so offen wie möglich präsentiert („Und hier ist das Hurenbett. Das ist jetzt Daddies Lieblingsort“).
Irritierend bleibt, dass Joe dem gütigen Herrn Seligman wie einem Beichtvater gegenübertritt: Sie ist der Meinung, dass sie ein schlechter Mensch ist. Er versucht sie vom Gegenteil zu überzeugen. Aber ist dies eine Frage, die wir heutzutage noch verhandeln müssen? Als der Film dach 145 Minuten völlig abrupt abbricht, weil der zweite Teil fehlt, bleibt man recht ratlos zurück, wohin einen Lars von Trier mit dieser Geschichte eigentlich führen will. Und noch ratloser, ob man das in Volume II eigentlich noch ergründen möchte.