JODAEIYE NADER AZ SIMIN (Nader and Simin, A Separation) von Asghar Farhadi

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Für mich der Beste Film der Berlinale. Er spiegelt auf perfekte Weise Gesellschaft in der kleinen Welt der Familie und erzählt, indem er Menschen Konflikte auskämpfen lässt, sowohl von deren inneren Widersprüchen wie denen des Landes - in diesem Fall Iran.

Farhadis Figuren sind einem so nah und er präsentiert ihre Beweggründe so neutral, dass man über zwei Stunden hinweg ständig die Seiten wechselt, weil annähernd jede Haltung der Figuren für sich genommen richtig erscheint. Ihr Konflikt ist vielleicht gar nicht so sehr miteinander, sondern wird durch strukturelle und gesellschaftliche Probleme erst ins Unglückliche hinein verstärkt.
Geradezu unheimlich ist die Fähigkeit des Regisseurs uns den Blick der beteiligten Kinder einnehmen zu lassen, die ständig gezwungen werden, sich für eine Seite zu entscheiden, die ihre Eltern Dinge tun sehen, die das Vertrauen zerrütten und doch zu ihnen halten. Sie müssen zwischen zwei Wegen, zwei Möglichkeiten wählen. Wer will, kann darin eine gesellschaftliche Metapher sehen.

Das iranische Kino ist auch deshalb das qualitätsvollste und vielseitigste der islamischen Welt (falls es die gibt), weil es sowohl eine lange Tradition sowie eine in er Region vergleichsweise gebildete Gesellschaft gibt - in ihr die sozialen Spannungen und Widersprüche und Konflikte einer religiösen Diktatur, die den Filmemachern Themen im Dutzend liefert.

Der Titel des Films ist irreführend, denn am Anfang und Ende es Films mag es um die Trennung des Ehepaares gehen. In den dazwischen liegenden 120 Minuten stehen aber nicht die Trennung, sondern die familiären Verwicklungen, hervorgerufen durch ein paar Lügen, im Zentrum. Und "ganz eigentlich" untersucht der Film die gesellschaftlichen, sozialen Wurzeln eines vordergründig juristischen Konflikts.


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Weil der an Alzheimers erkrankte Vater von Nader Hilfe braucht, seine Frau Simin aber wegen eines Streites über die von ihr geplante Ausreise aus der Wohnung auszieht, nimmt er sich eine Hilfe, die tagsüber für den Vater da sein soll. Die Pflegehilfe ist religiös und kommt aus dem armen Teil der Stadt. Schon da haben wir die Gegensätze der Gesellschaft, denn Nader und Simon gehören zu der Schicht der Wohlhabenderen und eher säkularen Iraner. Als Nader erbost darüber, dass die Frau seinen Vater ans Bett gebunden hat, um die Wohnung zu verlassen und der alte Mann in der Zeit aus dem Bett stürzt, diese aus der Wohnung wirft, kommt eine Kette von Lügen und Fehlentscheidungen in Gang. Warum die Frau die Wohnung verlassen musste, warum ihr Mann von allem nichts weiß, warum das Ganze irgendwann nicht mehr kontrollierbare Folgen zeitigt, dass liegt sowohl in persönlichen wie kulturellen und gesellschaftlichen Ursachen begründet.


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Die Pflegehilfe war schwanger, verliert ihr Kind. Zunächst sieht es so aus, als sei das durch einen Sturz im Treppenhaus geschehen, weil Nader sie wütend aus der Tür gestoßen hat. Der Ehemann ist ein arbeitsloser, überschuldeter, hochgradig agressiver weil frustrierter Mann, der nun das gesamte Unglück und all seine Wut in den Kampf gegen Nader lenkt, während dieser ebenfalls Recht behalten will, als müsse er sich selbst beweisen, dass es richtig war, nicht der Meinung seiner Frau zu sein, das Land zu verlassen.
Alle Beteiligten, die beiden Ehefrauen, dazu die Lehrerin, die Nachbarn, Nader selbst und sein Kontrahent scheinen grundehrliche Leute, verstricken sich aber in kleine Lügen, um durchzukommen oder weil sie es "gut meinen". Auch darin kann, wer will, wieder eine Metapher sehen.

Ist die Mutter also an allem Schuld, weil sie aus dem Land wegwollte und damit die Ehe aufs Spiel setzte? Ist es der sture Nader, der für seinen Vater da sein wollte? Ist es die schwangere Frau, die aus religiösen Gründen ihrem Mann nicht alles erzählen darf, aber für das Geld eine "Sünde" beging, die sie später zu vertuschen sucht. Ist es ihr Ehemann, der mittellos und überschuldet all seinen Frust an diesem wohlhabenden Mann ablässt, weil er in ihm einen Vertreter des Systems sieht, das ihn zugrunde gerichtet hat. Oder ist es ein Staat, der den Menschen nicht hilft, sondern nur straft, wenn schon alles zu spät ist, der die Leute zum Auswandern zwingt, wenn sie sich eine Zukunft für ihre Kinder in Freiheit erhoffen und der den Ärmsten nur die Hoffnung auf Gott lässt?


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Ein Streit um Geld wird ein Streit um Würde und Stolz. Und am Ende kennt die Geschichte nur Verlierer, die größten sind die Kinder, deren Familie zerbricht und die am Ende sogar noch selbst entscheiden müssen (können?), zu wem sie halten. Ein großartiger Film über eine Gesellschaft, in der jeder glaubt sich um sich selbst kümmern müssen, weil man niemandem mehr vertrauen kann. Und am Ende treffen die Kinder die Entscheidungen für die Zukunft. Das ist keine Metapher.

Kommentare ( 1 )

Klingt gut!!! Scheint sich zu einem der konstantesten iranischen Regisseure entwicklet zu haben - UND sitzt nicht im Gefängnis. NOCH nicht. Seinen Film
Alles über Elly (2009) hatten wir ja seinerzeits auch gut besprochen.
Tragisch, wie zeitlich in Teheran wieder Demonstranten niedergeknüppelt werden, fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit (der Medien), wenn man von den sozialen Medien absieht... Wenn der Film wirklich so gut ist und gewinnt, wäre das natürlich ein wichtiges Zeichen - dann wird sich Farhadi sicher mit Panahi solidarisieren (und dann kann auch er Probleme bekommen) - wenn eines Tages der ganze Spuk im Iran vorbei ist, wird dort eine der produktivsten Filmszenen überhaupt entstehen (und ist es sogar schon so trotz aller Widrigkeiten).

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Titel

Orignaltitel

Jodaeiye Nader az Simin

Englischer Titel

Nader And Simin, A Separation

Credits

Regisseur

Asghar Farhadi

Schauspieler

Leila Hatami

Shahab Hosseini

Peyman Moadi

Drehbuch

Land

Flagge Islamische Republik IranIslamische Republik Iran

Jahr

2010

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