Berlinale 2023: SONNE UND BETON von David Wnendt

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Neukölln schwitzt. Im Sommer 2003 quälen sich im Betonsilo Gropiusstadt alle durch die klebrige Hitze: Dealer im Park, Polizisten auf Streife, Familien in ihren stickigen Wohnungen, Schüler und Lehrer im Klassenzimmer. Konflikte kochen schnell hoch, Aggression und Gewalt sind allgegenwärtig. Lukas und seine Freunde geraten bei einem Streit unter Dealern zwischen die Fronten und müssen plötzlich 500 Euro als „Entschädigung“ auftreiben. Eine unvorstellbar hohe Summe für Jungs, die nicht mal Geld fürs Freibad haben.

Was ihnen sonst blüht, ist klar: Davon zeugen die blutigen Schrammen und blauen Flecken, die Lukas schon beim ersten Zusammenknall im Park davon getragen hat. Darüber hinaus sind gebrochene Finger und Arme als Strafe durchaus im Bereich des Möglichen. Die Jungen brauchen einen Plan, um an die Kohle zu kommen. Und zwar schnell.

SONNE UND BETON läuft in der Sektion „Berlinale Special“ und wird seit Wochen als Film, den man gesehen haben muss, gehandelt. Zu Recht. Regisseur David Wnendt hat die mehr oder weniger autobiografische Romanvorlage von Felix Lobrecht, seines Zeichens erfolgreicher Comedian und Podcaster aus Neukölln, gelungen verfilmt: rau, witzig und traurig zugleich. Die Tonlage balanciert gekonnt zwischen leicht schräger Komödie, Coming-of-age-Drama und genauem, fast dokumentarischem Hingucken. Was hier gezeigt wird, fühlt sich ziemlich echt an – obwohl, oder vielleicht gerade, weil das Posen für die Jungs und Mädchen aus dem „Problemkiez“ zum täglichen Überleben dazu gehört.

Dazu gehört auch der unverwechselbare Neukölln-Sprech mit allerlei Ausdrücken, die andernorts auf den Index kommen. Wie sollte man die Protagonisten dieser Geschichte auch sonst reden lassen? "Neukölln politisch korrekt zu machen, wäre kompletter Blödsinn", hat Felix Lobrecht in einem Interview mit der taz gesagt. Sein Buch hat mittlerweile mehrere Spin-offs: neben dem Film gibt es seit kurzem auch eine Graphic Novel.

Klar gerinnt eine solche "Ghetto"-Geschichte schnell zum Klischee. Damit das Ganze nicht aufgesetzt wirkt, muss das Feeling stimmen. Die jungen Darsteller und unzählige Komparsen wurden in einem langen Prozess sorgfältig gecastet – das hat sich ausgezahlt. Levy Rico Arcos als Lukas ist einfach umwerfend. Wenn er – mit letzten Spuren von Babyspeck im Gesicht – übers ganze Gesicht strahlt, wenn seine Lippen vor Angst und Wut zittern, wirkt er fast wie ein kleiner Junge. Dann wieder verdüstert sich seine Miene, und man ahnt, wie er als erwachsener Mann aussehen könnte. Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Heßling und Aaron Maldonado-Morales ergänzen die Kerntruppe um Hauptfigur Lukas.

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Egal, ob sie zusammen abhängen und rumalbern, die Mutter vor dem prügelnden Vater zu retten versuchen, einen völlig dilettantischen Einbruch durchziehen oder sich bei Sonnenaufgang zerknirscht eingestehen, dass die erhoffte Partynacht mal wieder mangels Kohle völlig in die Hose gegangen ist: Die vier geben uns einen Einblick darin, wie es sich anfühlt, wenn man als 15-Jähriger langsam begreift, dass man nicht viel Chancen im Leben hat. Dass man sich ziemlich anstrengend muss, wenn man mal nicht so enden will, wie die vielen traurigen Gestalten um einen herum.

Und da gibt es abschreckende Beispiele genug: Koksende Irre, deprimierte Verlierer, verprügelte Ehefrauen, Säufer und Prügler. Ein Repertoire, das klischiert anmuten mag, aber durchaus realistisch ist. Mehrere Rapper aus Berlin - Luvre47, Lucio101 und Azzi Memo beispielsweise - tauchen in kleinen Nebenrollen auf, auch Felix Lobrecht hat einen Mini- Auftritt. Bei der Premiere im Berlinale-Palast mischte sich dann Kiezmilieu fröhlich-lautstark mit der High Society im feinen Zwirn und einem bunt durchmischten Festival-Publikum. Gut so.

Andere Nebenfiguren im Film sind erstaunlich vielschichtig gezeichnet. Jörg Hartmann als Lukas Vater beispielsweise, der tapfer aber recht hilflos versucht, seinem Sohn mit väterlichen Sprüchen durchs Leben zu helfen. Und dabei nicht versteht, dass „der Klügere gibt nach“ kein guter Ratschlag für das Überstehen einer Kiezschule ist. „Der Klügere tritt nach“ passt da schon eher, wie Lukas anmerkt. Coole Kleingangster stecken selbst in der Klemme und werden sehr kleinlaut, wenn der Schuldeneintreiber auftaucht. Kopftuchtragende Mütter von Drogendealern entpuppen sich als Frauen, die durchaus zu klaren Ansagen fähig sind. Überforderte Lehrer können trotz allem einem Jugendlichen den entscheidenden Anstoß dazu geben, wie man dem Leben eine andere Wendung geben könnte.

SONNE UND BETON ist kein Film, der kluge Ratschläge darüber erteilen will, wie man als Jugendlicher mit einem schwierigen Leben klarkommt. Er zeigt es einfach, konsequent aus der Perspektive von 15-Jährigen. Zeigt die Lebensfreude und die Verzweiflung, das Scheitern und das Durchhalten. Und ist damit ehrlicher und vielleicht hilfreicher als vieles andere.

Fotos: Constantin Film Verleih

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Titel

Orignaltitel

Sonne und Beton

Englischer Titel

Sun and Concrete

Credits

Regisseur

David Wnendt

Schauspieler

Lucio101

Luvre47

Wael Alkhatib

Imran Chaaban

Jörg Hartmann

Rafael Luis Klein-Heßling

Aaron Maldonado-Morales

Levy Rico Arcos

Vincent Wiemer

Franziska Wulf

Jahr

2023

Dauer

119 min.

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