WALCHENSEE FOREVER von Janna Ji Wonders (Berlinale 2020)

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© Flare Film

Ein fröhliches kleines Mädchen mit einem Blumenkranz schaut selbstbewusst in eine Kamera und beantwortet ihrer Mutter ein paar Fragen über die Familie. Dann wechseln die Positionen und das Mädchen darf die Mutter interviewen und filmen. Schon diese ersten Szenen, die die Regisseurin Janna Ji Wonders als Kind im Gespräch mit ihrer Mutter zeigen, deuten an, dass es im Folgenden um eine Familie gehen wird, in der das filmische Festhalten des eigenen Erlebens eine wichtige Rolle spielt. Das Schöne und zugleich leider immer noch Ungewöhnliche daran: Die über einhundertjährige Familienchronik, die in WALCHENSEE FOREVER aus Interviews, Fotos, Briefen und Filmaufnahmen kunstvoll zusammengefügt wird, erzählt Zeitgeschichte konsequent aus weiblicher Perspektive.

Ausgangspunkt und stille Hauptfigur der Handlung ist das Familiencafé am idyllischen Walchensee, das seit der Jahrhundertwende von den Frauen der Familie geführt wurde und in dem sich alle immer wieder getroffen haben. Wobei sich die Idylle hauptsächlich auf die malerische Landschaft bezieht, denn der Alltag in der Gastronomie war dort genauso hart und arbeitsreich wie überall. Im Zentrum der Dokumentation stehen das Leben der Großmutter, der Mutter und der unter ungeklärten Umständen verstorbenen Tante der Regisseurin. Durch das viele Jahrzehnte lang zurückreichende Filmmaterial, auf das Wonders dank des Archivs ihrer Familie zurückgreifen konnte, wird es für den Zuschauer möglich, auch die emotionalen Entwicklungen im Beziehungsgeflecht der Frauen nachzuvollziehen. Es ist ein großes Verdienst der Regisseurin, dass sie Schattenseiten dabei nicht ausblendet und die Verletzungen zeigt, die wohl jedes Familiengefüge mit sich bringt. Das ist, wie im eigenen Leben auch, nicht immer schön und manchmal nur schwer erträglich. Wir folgen der Mutter und ihrer Schwester auf einer abenteuerlichen Backback-Reise als Musikerinnen nach Mexiko, begleiten sie auf der Suche nach Erleuchtung im Kontakt mit verschiedenen Gurus und bei ihrer Zeit mit Rainer Langhans in einer Münchner Kommune. Langhans ist der einzige Mann, der im Film direkt zu Wort kommt. Viel interessanter ist es aber, den interviewten Frauen zuzuhören, die anhand ihrer eigenen Erlebnissen vom Aufbruch alter Lebensmodelle jenseits der klassischen Paarbeziehung erzählen, von weiblicher Solidarität aber auch von Einsamkeit, Schmerz und dem Umgang mit Krankheit und Alter.

Fragen nach der Bedeutung von Herkunft und Heimat werden in WALCHENSEE FOREVER genauso in den Mittelpunkt gerückt, wie die massiven gesellschaftlichen Veränderungen, die die Frauenrolle innerhalb eines Jahrhundert erfahren hat. Während es für die Müttergenerationen noch eine große Kraftanstrengung bedeutet hatte, sich aus den gesellschaftlichen Erwartungen an eine Frau zu befreien und eigenen Wünschen zu folgen, ist das für die junge Generation, der auch die Regisseurin angehört bereits selbstverständlicher geworden. Am Ende kommt noch kurz ihre kleine Tochter ins Bild und damit auch die Frage danach, wie diese heute geborenen Frauen wohl mit den Freiheiten umgehen werden, die ihre Mütter und Großmütter mühsam für sie erkämpft haben. Es sind Filme wie WALCHENSEE FOREVER, die dafür sorgen, dass der Blick auf Geschichte kein ausschliesslich männlicher bleibt und dass das Alltagsleben von Frauen endlich die Beachtung und Wertschätzung erfährt, die es schon lange verdient.

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Titel

Orignaltitel

Walchensee Forever

Credits

Regisseur

Janna Ji Wonders

Land

Flagge DeutschlandDeutschland

Jahr

2020

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