THE ROADS NOT TAKEN von Sally Potter (Berlinale 2020)

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© Adventure Pictures

Noch bevor überhaupt Bilder zu sehen sind, ertönt aus dem Off ein langes Türklingeln, gefolgt von unbeantwortet bleibenden Telefonanrufen. Die Kamera zeigt einen mittelalten Mann, der trotz der ihn umgebenden Klingelgeräusche weiter regungslos im Bett liegt und mit glasigen Augen in eine unbestimmte Ferne starrt. Draußen vor seiner Haustür sieht man eine junge Frau, die verzweifelt per Telefon und Türklingel versucht, irgendwie zu diesem Mann durchzudringen. Bereits diese ersten Filmminuten enthalten alle Elemente des Dramas, das sich im Folgenden entfalten wird.

Es geht um einen Tag im Leben von Molly (Elle Fanning) und ihrem an Demenz erkrankten Vater Leo (Javier Bardem). Leo, der früher einmal Schriftsteller war, ist aufgrund seiner fortgeschrittenen Erkrankung nicht mehr in der Lage, seinen Alltag zu bewältigen. Schon das tägliche Aufstehen und die Körperpflege stellen schwierige Hürden dar, außergewöhnlichere Ereignisse wie der Gang zum Arzt oder der Einkauf in einem Shoppingcenter sind fast unüberwindbare Herausforderungen. Leo kann kaum noch mit der Außenwelt kommunizieren und zieht sich immer mehr in seine innere Gedankenwelt zurück. Seine Tochter Molly kümmert sich liebevoll um ihren Vater und sie versucht, sich die eigene Überforderung nicht anmerken zu lassen. Als Molly durch die zeitintensive Betreuung einen wichtigen beruflichen Auftrag verliert, bahnt sich eine Krise an.

Abgesehen von den schwierigen Situationen, die sich aus der Demenz des Vaters im Alltag ergeben, hat der Film eine weitere zentrale Ebene. In mehrfach miteinander verschachtelten Rückblenden geht es um verschiedene Lebensstationen aus der Vergangenheit von Leo, die er in gedanklichen Flashbacks immer wieder durchlebt. Es ist dabei nie eindeutig zu entscheiden, welche diese Erinnerungen tatsächlich auf seinen realen Erlebnissen beruhen und wo die Grenze zur Halluzination verläuft. Wie in dem bekannten Gedicht von Robert Frost, auf das der Filmtitel Bezug nimmt, geht es in diesen Sequenzen vor allem um ungenutzte Chancen im Leben, um Abzweigungen, die an bestimmten Punkten nicht genommen wurden und um unverarbeitete Verluste, die die Hauptfigur mit sich herumschleppt.

Sally Potter hat mit großartigen Filmen wie ORLANDO bewiesen, wie kunstvoll sie verschiedene Zeitebenen miteinander verknüpfen kann. Auch in THE ROADS NOT TAKEN ist die Arbeit mit Rückblenden ein wichtiges Stilmittel. Durch den ständigen Wechsel zwischen den Zeiten und den verschiedenen Realitätsebenen der Hauptfigur entsteht ein fluider Zustand, der gut zum Thema passt. Gleichzeit ist es aber auch schwierig, in dieser Zerfaserung als Zuschauer den Überblick zu behalten. Viele Erzählstränge der Story verbleiben im Ungefähren und vor allem die Darstellung der zentralen Vater-Tochter-Beziehung gerät zu eindimensional. Durch die zahlreichen Rückblenden aus der Sicht des Vaters erfahren wir kaum etwas über die Tochter und über ihre Geschichte. Trotz guter schauspielerischer Leistungen von Javier Bardem und Elle Fanning kann mich der Film daher nicht vollkommen überzeugen.

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Titel

Orignaltitel

The Roads Not Taken

Credits

Regisseur

Sally Potter

Schauspieler

Javier Bardem

Elle Fanning

Salma Hayek

Laura Linney

Land

Flagge Vereinigtes KönigreichVereinigtes Königreich

Jahr

2020

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