SURGE von Aneil Karia (Berlinale 2020)

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SURGE, das ist die elektrische Überspannung oder eine Spannungsspitze. Am Anfang ist SURGE ein Film über Arbeit. Joseph (Ben Whishaw) tastet an der Flughafen-Sicherheitsschleuse die Passagiere ab. Er ist übernervös und überkorrekt, seine Anspannung ist körperlich spürbar. Unwillkürlich fragt man sich: Nimmt ein Sicherheitsmann jeden Menschen als Bedrohung wahr? Ist das vielleicht eine Berufskrankheit? Nein. Joseph ist hilfsbereit und zeigt Mitgefühl, als er einen alten, verängstigen Mann in einen Nebenraum bitten muss, um ihn nochmals zur durchsuchen. Paranoid ist nicht der Sicherheitsmann, sondern eher die Gesellschaft, die diese Simulation von Sicherheit anordnet. Und trotzdem: Schnell wird klar, dass Joseph große psychische Probleme hat.

Josephs Weg nach Hause nach der Arbeit trägt nicht dazu bei, seine (und unsere) Nerven zu beruhigen. Nervosität und Aggressivität sind überall in London zu spüren. Joseph nimmt mit niemand Blickkontakt auf. Der Nachbar macht vor dem Mietshaus mit seinem ekelhaften Quad einen Höllenlärm, Joseph lässt es geschehen. Dann sitzt er mit einem Fertiggericht vor dem Fernseher. Seine Isolation ist mit den Händen zu greifen.

Am Wochenende nimmt er den Zug zu seinen Eltern. Sein Vater holt ihn vom Bahnhof ab. Schon als Joseph ins Auto steigt, ist die Atmosphäre aufgeladen. Unterschwellige Aggression vom Vater und vorsichtig beschwichtigende Gesten vom Sohn. Zu Hause angekommen wird der Nachmittag bei den Eltern zur Tortur. Eigentlich sollte Joseph seinem Vater beim Aufstellen einer Waschmaschine helfen, so jedenfalls der Plan der Mutter. Doch der Vater wehrt jeden Hilfsversuch aggressiv ab. Dann präsentiert die Mutter einen nachträglichen Geburtstagskuchen, doch der anschließende Familienkaffee wird zum Fiasko. Kein Gespräch, nicht mal echter Blickkontakt mit den Eltern. Mir selbst Schwitzen im Kino die Handflächen. Josephs Mutter sieht so müde und verzweifelt aus, als würde sie am liebsten aus dieser Welt verschwinden. Ihr Sohn ist so angespannt, dass er beim Trinken ein Glas zerbeißt. Er rennt ins Bad, spuckt Blut und flieht dann aus dem Haus.

Es ist mehr zerbrochen als ein Glas. Joseph fährt zurück nach London und steigert sich schon auf dem Weg in einen manisch psychotischen Zustand. An dieser Stelle scheint Aneil Karias Film in eine ausgefahrene Spur abzubiegen: Die Geschichte vom Mann, der durchdreht, FALLING DOWN, EIN MANN SIEHT ROT, das sind sofort die Assoziationen. SURGE folgt diesem Handlungspfad für einige Zeit. Die Bildmontage und die Kameraführung verstärken das Gefühl der Angst, Verwirrung und Aggression – Josephs Psyche zerfällt vor unseren Augen. Wir warten nervös auf eine nächste Eskalation. Die folgt, ist aber ganz anderer Art als vermutet. Mehr wird hier nicht verraten. SURGE ist da noch lange nicht vorbei. Der Film spielt mit Elementen eines klassischen Thrillers, erzählt aber eine Geschichte, die gleichzeitig von der Paranoia des Einzelnen und der Gesellschaft handelt. Es sind die Regeln, nach denen die Gesellschaft funktioniert, die die Menschen verunsichern und aggressiv machen - im Großen wie im Kleinen. Aneil Karia beweist, dass gesellschaftliche Relevanz und Spannung keine Gegensätze sind.

Fotos: © Rooks Nest Entertainment

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Titel

Orignaltitel

Surge

Credits

Regisseur

Aneil Karia

Schauspieler

Ian Gelder

Ellie Haddington

Jasmine Jobson

Ben Whishaw

Land

Flagge Vereinigtes KönigreichVereinigtes Königreich

Jahr

2020

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