Audi. In Ingolstadt ist Audi mehr als eine Automarke und mehr als eine Firma. In Ingolstadt ist Audi der wichtigste Taktgeber für die Wirtschaft einer ganzen Region. Dass „die Wirtschaft“ nichts Abstraktes ist, zeigt Jonas Heldts Dokumentarfilm AUTOMOTIVE am Beispiel von zwei Frauen: Seda ist Leiharbeiterin für den Logistikdienstleister Imperial, der im Auftrag von Audi Lager und andere Logistikservices übernimmt. Eva ist eine Headhunterin, die vor allem Fachkräfte für Automatisierung in Produktion und Logistik vermittelt. Denn das ist das große Thema, vor dem sich die Doku abspielt: Audi ist wie die ganze Automobilindustrie im Umbruch: Internationale Produktionsketten gibt es schon lange, die Automatisierung und die Digitalisierung verändern jetzt zusätzlich die gesamte Fertigung.
AUTOMOTIVE hat beide Frauen zwei Jahre im Arbeitsalltag begleitet. Was sofort auffällt: Beide mögen ihren Job und sind stolz auf das, was sie machen. Seda kommissioniert im Lager Teile mit digitaler Unterstützung von Headset, RFID-Scanner und Computerstimme. Eva telefoniert mit hochbezahlten Spezialisten und klopft ab, ob sie nicht den Arbeitgeber wechseln wollen.
Als es bei Audi in Ingolstadt die Produktion stockt, unter anderem weil in einem ungarischen Werk und in einem Werk in Ingolstadt gestreikt wird, verliert Seda ihre Arbeit. Als Leiharbeiterin gehört sie immer zu den ersten, die gehen müssen. Für Seda hat das sofort Auswirkungen. Das Geld für die Miete wird knapp. Aber für die Zwanzigjährige, die Erzieherin gelernt hat, ist klar: Sie will mit Autos zu tun haben, nicht mit Kindern. Worauf sie hinarbeitet? Auf einem Mercedes A-Klasse. Sie gibt zu: „Status ist mir wichtig.“
Deshalb kämpft Seda für einen neuen Job. Sie spricht mit ehemaligen Kollegen, sie spricht mit dem Vertreter der IG Metall. Wann kann sie wieder als Leiharbeiterin bei Imperial anfangen? Wann gibt es die Möglichkeit, dort auch einen festen Job als Lagerarbeiterin zu bekommen. Die Arbeitsagentur bietet ihr Stellen im Kindergarten an, sie will eine Fortbildung zur Gabelstaplerfahrerin machen und bekommt die Zuschüsse dafür.
Für Eva dagegen bedeutet der Wandel in der Automobilindustrie gutes Geschäft. Automatisierungsspezialisten sind gefragt. Sie versucht, die richtigen Kandidaten mit den richtigen Arbeitgebern zusammenzubringen und telefoniert, was die Stimme hergibt. Wovon sie träumt? Sie will mit ihrer Partnerin in der Karibik ein Hotel aufmachen. Sie glaubt, dass es ihren Headhunterjob noch lange geben wird, aber ganz sicher ist sie sich auch nicht. Am Jahresende feiert Eva mit ihren Kollegen ein erfolgreiches Geschäftsjahr. Auch Seda kann sich freuen: Sie hat den Staplerschein gemacht und bekommt von Imperial einen Festanstellungsvertrag mit sechsmonatiger Probezeit.
AUTOMOTIVE wirft einen Blick auf eine Branche, der die großen Umbrüche jetzt bevorstehen. Für den Bau eines Elektromotors werden ca. 40 Prozent weniger Arbeitskräfte gebraucht. In der digitalisierten Produktion und Logistik übernehmen Roboter schon jetzt viele Arbeiten, auch das Staplerfahren. Angesichts dieser Fakten verblüfft es, wie gelassen alle im Film Gezeigten bleiben: Der Betriebsrat von der IG-Metall, der Lagerleiter von Imperial, der Chef eines Entwicklungsteams bei Audi, aber auch die beiden Protagonistinnen – alle blicken positiv in die Zukunft. Der Film von Jonas Heldt ist so interessant, weil er nicht dem Modus der klassischen Sozialreportage folgt: Er prangert keine Missstände an oder beklagt gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Er wertet nicht oder kommentiert, sondern lässt einfach seine Protagonisten zu Wort kommen.
Fotos: © Jonas Heldt