Der Blick der Kamera ruht jeweils für einige Sekunden auf tristen, verlassenen Gebäuden, die in ihrer blassen Monochromie fast im Schneegestöber untergehen. Erst eine Art Schuppen, dann eine Garage, ein Wohnhaus. Grobkörniges Filmmaterial, gedreht auf 16mm. Denis Coté, Kanadischer Regisseur, setzt bereits mit den ersten Bildern von RÉPERTOIRE DES VILLES DISPARUES (GHOST TOWN ANTHOLOGY) das Gefühl der Fremdheit und Abweisung, das sich durch den gesamten Film ziehen wird. Dann rast ein Auto durch den Schnee, durch eine scharfe Wendung des Lenkrads prallt es frontal gegen eine Mauer. Ein Knall, Stille. Drei Kinder in seltsam mittelalterlich anmutenden Kostümen, mit Geistermasken aus Pappmaché vor den Gesichtern, nähern sich vorsichtig dem Wrack. Laufen Weg. Wer jetzt mutmaßt, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht, liegt nicht ganz falsch.
Coté erzählt von einer akuten Krisensituation in dem Kaff Irénée-les-Neiges, irgendwo in Quebec. Der automobile Selbstmord des jungen Simon wird zum Katalysator für merkwürdige Vorkommnisse im Dorf. Die Trennlinie zwischen der Welt der Lebenden und der Toten scheint durchlässig geworden zu sein. Nun ist das 219-Einwohner-Fleckchen ohnehin eine sogenannte „Ghost Town“. Arbeit gibt es keine mehr, seitdem die örtliche Mine geschlossen wurde, immer mehr Menschen ziehen fort, um anderswo ihr Glück zu suchen. Die Übriggebliebenen verharren irgendwo zwischen Freizeitbetätigungen, Feiern und Nichtstun, halten eisern zusammen, und schotten sich mit einer „wir schaffen das alles selbst“ Mentalität nach außen ab. Leider kommen jedoch die Ruhestörer, „die Fremden“ oder „Silhouetten“, wie sie bald genannt werden, ganz und gar nicht von außen. Sie sind sozusagen die historische DNA des Ortes: Längst verstorbene Einwohner tauchen plötzlich im Dorf auf, tagsüber oder nachts, draußen und drinnen. Sie tun nichts, gucken bloß und reden nicht, auch wenn man sie anspricht. Damit kann auf Dauer weder die resolute, trinkfeste Bürgermeisterin so recht umgehen, noch die Familie des toten Jungen, und auch das sich ständig bekabbelnde und einander dennoch innigst zugetane ältere Ehepaar und der dynamische Restaurantbesitzer mit Plänen für eines der verlassenen Geisterhäuser wissen sich mit den Geistererscheinungen nicht so recht zu arrangieren.
Was soll man aber auch machen, wenn so ein Untoter im Vorgarten steht? Ignorieren? Freundlich auf ihn zugehen und ihn hereinbitten? Nützt ja alles nichts. Offenbar wollen die „Silhouetten“ ohnehin keinen näheren Kontakt, sie wollen nur ihren Platz im Dorf behaupten. Eine etwas naive und sensible junge Frau erschreckt sich besonders nachhaltig über die dauernden Spukereien – und flüchtet zu guter Letzt in eine Außer-Körper-Erfahrung, die absurde Realität wird und das schönste Bild des Filmes liefert. Sie jedenfalls scheint sich darin wohl zu fühlen.
Coté findet eindrückliche Bilder, um die uns so natürliche Trennung zwischen dem Leben, dem Realen, Kontrollierbaren und dem Nichts, dem Ungewissen, Unheimlichen aufzubrechen. Und er sieht genau hin, wie eine eng gestrickte Gemeinschaft mit derlei Unsicherheiten umgeht. Man kann dem Film gut und gerne über seine 96 Minuten hinweg zuschauen, die triste Schneelandschaft ist auf ihre Art sehr pittoresk, die Figuren gut gezeichnet, die Gruseleffekte halten sich in Grenzen. Trotzdem fragt man sich zum Schluss schon, was jetzt eigentlich das dringliche Anliegen des Filmemachers war, um uns diese Geschichte zu erzählen. Man sucht, noch Stunden später, nach Schlüsseln zur Lösung dieses Rätsels. Ein Bär, wie im letzten Wettbewerbsbeitrag von Denis Coté, taucht jedenfalls nicht auf.
Fotos: © Lou Scamble (oben) und © screengrab