INSYRIATED von Philippe van Leeuw (Berlinale 2017)

Das Ende der Moral oder als der Krieg in die Wohnung kam

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Der Applaus ist langanhaltend und aufrichtig. „Der beste Film, den er auf der Berlinale gesehen hat“, sagt einer nach der Aufführung. Die Voraussage, dass Insyriated den Publikumspreis gewinnt ist alles andere als gewagt.

Umso mehr habe ich fast ein schlechtes Gewissen, weil ich die Begeisterung nicht teile. Ja, es ist ein eindringliches Kammerspiel, das über anderthalb Stunden eine syrische Familie und ihre Nachbarin in ihrem Apartment zeigt, während draußen der Krieg tobt, der im Laufe des Films auch in den scheinbar letzten geschützten Raum, die Wohnung, brutal eindringt. Es sind auch grandiose Schauspieler, keine Frage. Aber irgendetwas fehlt.

Eindringlich zeigt der Film die Grauen des Krieges, die Ungewissheit, den Alltag des Schreckens. Um Yassin, überzeugend gespielt von Hiam Abbas, hat gemeinsam mit ihrem alten Vater und ihren Kindern ein Paar aus dem Haus aufgenommen, deren Wohnung massiv beschossen wurde. Das junge Paar mit Baby hat sich schon entschlossen die gefährliche Flucht zu wagen. Aber als der Ehemann Samir morgens für die letzten Besorgungen aufbricht, wird er von einem Scharfschützen erschossen. Die Szene wird von der Hausangestellten beobachtet, die es Um Yassin erzählt. Die schweigt, aus Angst die Ehefrau könnte ihm nachlaufen und selbst zu Tode kommen.

Der Tod ist omnipräsent hier, mit einschlagenden Granaten, Scharfschützen, und Kämpfern. Als zwei brutale Schergen in die Wohnung eindringen, verschanzt sich die Familie in einem Raum, während die junge Mutter mit ihrem Baby zurückbleibt. Die folgende Vergewaltigungsszene gehört zum psychisch Unerträglichsten, was ich jemals in einem Film gesehen habe. Es ist, als reiche der un-menschliche Übergriff direkt in den Kinosaal herunter, ich möchte den Sitz herausreißen vor Ekel und Wut. Fast bin ich wütend auf den Film, dass er uns das zumutet.

Das alles wäre gut, wenn der Schockeffekt in eine bestimmte Richtung gelenkt würde. Und scheinbar hat er auf viele Menschen in der Tat einen aufrüttelnden Effekt, als Kontrapunkt der allgemeinen Verdrängung dieses Krieges. Bei mir bleibt ein verkrampfter Magen und die Frage, was der Film eigentlich will. Ja, es ist Syrien. Aber im Filme werden keine Orte genannt, keine Namen; er will niemanden beschuldigen sagt der Regisseur hinterher, er will keine Guten, keine Bösen definieren. Im sechsten Jahr des Krieges ist mir die universell gültige Botschaft „Krieg ist schlimm für die Betroffenen“ einfach zu wenig.

Stark ist die Frage nach der Moral in einer elementaren Kriegssituation: Handelt, wer seine Kinder schützt, aber jemand anders aufgibt, unmoralisch? Handelt, wer einer Ehefrau den Tod ihres Mannes verschweigt, um sie zu schützen, verwerflich? Und wer maßt sich an das zu beurteilen? Am Ende stellt sich heraus, dass Samir schwer verwundet überlebt hat. 2012 hat Regisseur Philippe van Leeuw mit den Vorarbeiten zum Film begonnen - ob er da ahnte, dass der Krieg fünf Jahre später noch toben würde? So erinnert er uns spät, zu spät an unser Versagen diesen furchtbaren Krieg in Syrien zu stoppen.

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Titel

Orignaltitel

Insyriated

Credits

Regisseur

Philippe Van Leeuw

Schauspieler

Mohsen Abbas

Hiam Abbass

Diamand Abou Abboud

Moustapha Al Kar

Juliette Navis

Land

Flagge BelgienBelgien

Flagge FrankreichFrankreich

Flagge LibanonLibanon

Jahr

2017

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