Wundersame Wandlungen
Hans Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein" ist ein Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur. Bereits 1947 erschienen, war die authentische Geschichte der Berliner Eheleute Quangel, die zwei Jahre lang Postkarten und Handzettel mit Anti-Hitler-Botschaften in Umlauf brachten, schließlich erwischt und 1943 hingerichtet wurden, eine der ersten Auseinandersetzungen mit dem Widerstand in Nazi-Deutschland. Nach Neuübersetzungen ins Französische und Englische erfuhr der Roman vor einigen Jahren eine neue Welle der Aufmerksamkeit. Nun hat ihn der Schweizer Vincent Perez mit einer Starbesetzung - Emma Thompson, Brendan Gleeson und Daniel Brühl - unter dem Titel ALONE IN BERLIN verfilmt. Leider hat der Film einige schwerwiegende Macken, das Ergebnis ist geradezu ärgerlich.
Es fängt schon damit an, dass im Haus des Ehepaars ein hochanständiger Ex-Richter lebt, der eine ältere Jüdin bei sich in der Wohnung versteckt. Diese dazu erfundene Episode ist dermaßen unglaubwürdig, klischeebeladen und in ihrem Ablauf so vorhersehbar, dass es einen graust. Doch damit nicht genug. Die Motivation der bis dato angepasst lebenden Mitläufer Otto und Anna Quangel, sich plötzlich gegen Hitler zu engagieren und damit Leib und Leben in Gefahr zu bringen, wird in keinster Weise nachvollziehbar dargestellt. Klar, der einzige Sohn ist gefallen und die Eltern sind am Boden zerstört. Aber das waren andere auch, und sie haben keine widerständlerischen Zettel verteilt. Im Roman wird die allmähliche Entwicklung der Eheleute Schritt für Schritt nachvollzogen. Hier kommt an einem Tag der Feldpostbrief und am nächsten zückt Otto Quangel bereits Tinte und Feder. Emma Thompson und Brendan Gleeson sind weiß Gott hervorragende Schauspieler, und so schaffen sie es wenigstens, dass die Figuren nicht hölzern wirken (im Gegensatz zu dem selbstgeschnitzten Porträtkopf ihres Sohnes, der als weiteresvöllig überladenes Etwas im Film auftaucht). Aber vor allem Thompson ist derart dauergeschockt und traurig, dass man das Gefühl hat, sie hält sich aus lauter Ratlosigkeit an dieser einen Gefühlsnuance fest und überdreht dabei etwas. Gleeson hingegen ist der in sich gekehrte Berg von Mann, stumm und in sich ruhend. Das ist soweit ok, wäre nicht irgendjemand auf die blöde Idee gekommen, ihn mit einem leichten deutschen Akzent reden zu lassen. Was soll das denn bitteschön?
Doch das Schlimmste kommt zum Schluss: Der ermittelnde Kommissar, schneidig von Daniel Brühl verkörpert, macht im Verlauf des Films eine wundersame Wandlung durch. Nachdem er erst von einem ganz ganz bösen SS-Oberfuzzi zusammengeschlagen wird, weil er einen offenkundig Unschuldigen hat laufen lassen, wird er selbst zum Verbrecher. Er erschießt den zuvor Freigelassenen kurzerhand und schützt Selbstmord vor. Bei der Verhaftung der Eheleute geht er ebenfalls nicht gerade zimperlich vor. Nach der Hinrichtung packt ihn dann offenbar das schlechte Gewissen und er erschießt sich selbst, nicht ohne vorher theatralisch die gesammelten Quangelschen Handzettel aus dem Fenster des Büros auf die Straße zu werfen. Was für ein bodenloser Unsinn!
Interessant wäre es vielmehr gewesen, hätten die Filmemacher, anstatt diesen ganzen Kitschquark dazu zu erfinden, sich etwas näher an die realen Figuren herangemacht. Wie man inzwischen weiß, haben die Eheleute Hampel - wie sie in Wirklichkeit hießen - im Angesicht des Fallbeils ihre Anständigkeit ein Stück weit eingebüßt, indem sie sich gegenseitig beschuldigt haben, der wahre Anstifter zu sein. Diese sicher verständliche Panikreaktion brachte den beiden indes nichts. Sie starben, jeder für sich allein, am selben Tag, dem 8. April 1943 in Plötzensee. Fallada selbst hat sich entschieden, dieses unschöne Detail nicht zu verwenden. Schließlich brauchte man 1947 dringend Heldengeschichten. Für einen Film, der uns im Jahr 2016 etwas Neues über diesen allseits bekannten Stoff erzählen will, wäre dies hingegen eine interessante Chance gewesen.
ALONE IN BERLIN freilich hat sie, wie nahezu alle anderen Chancen auch, nicht genutzt.