"Warum läuft Herr R. Amok?" von Michael Fengler

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Alltag ist Irrsinn

München 1969: Auch in dem bayerischen Dorf, das sich schon immer gerne als Großstadt maskiert hat, sind die Swinging Sixties angekommen. Allerdings nicht bei Herrn R. (Kurt Raab). Nach dreißig Sekunden weiß der Zuschauer: Herr R. gehört nicht dazu. Er trägt Anzug und Krawatte, einen akkuraten Seitenscheitel und arbeitet als technischer Zeichner. Wenn sich seine Kollegen dumme Witze erzählen, schweigt Herr R. Auch mit seiner Frau (Lilith Ungerer), die sich als mondäne, künstlerisch beflissene moderne Frau und Mutter geriert, spricht Herr R. nur wenig. „Man kann ja wohl erwarten, dass ein Mann die Familie ernährt“, sagt Frau R. Herr R. ist sehr bedrückt. Seine Arbeit ist dem Chef nie gut genug, aber eine Frau erwartet eine Beförderung.

Der Regisseur Michael Fengler hat mit diesem Film etwas zur damaligen Zeit völlig Neues gemacht: Er hat einen Spielfilm im Stil einer Dokumentation gedreht. Übrigens ohne die Hilfe von Fassbinder. Der fand den Film so unmöglich, dass er seinen Namen wieder aus dem Vorspann streichen lassen wollte. Darauf musste er verzichten: Es war schlicht zu teuer, den Vorspann neu zu gestalten.

Das Ergebnis von Fenglers künstlerischer Vision ist auch fast vierzig Jahre später brillant. Der Film zeigt eine Reihe von Alltagsszenen aus Herrn Rs. Leben. Wie Michael Fengler nach dem Film erzählte, wurden die Dialoge bewusst nur skizziert, die Regieanweisungen waren minimal. Mit den alltäglichen, nicht gebauten Sets (Wohnzimmer, Büro, Kneipe), dem nicht nachbearbeitetem Ton und dem fast durchgängig natürlichen Licht, ergibt das einen Reportagestil, der Interesse weckt und zusammen mit dem unheilverkündenden Titel eine große Spannung erzeugt.

Die Dialoge sind das Herzstück: Der spießige Familiennachmittag mit den Schwiegereltern ist so, wie ihn jeder schon erlebt hat: Nach belanglosem Geplapper fliegen von einer Sekunde zur anderen auf einmal verbale Giftpfeile zwischen Rs. Mutter und seiner Frau, die sofort wieder von niederträchtiger Leutseligkeit abgelöst werden. Herr R. versucht unterdessen, sich unsichtbar zu machen. Die Firmenfeier (laut Fengler ein first take), auf der R. seine berufliche Zukunft verspielt, weil er einmal nicht den Mund hält, ist einerseits so komisch und andererseits so niederschmetternd entlarvend, dass es Loriot nicht besser hingekriegt hätte.

Herr R. bleibt danach so passiv wie zuvor, aber man spürt, wie es in ihm arbeitet. Sein Amoklauf ist kurz und heftig, der Anlass nichtig, das Ergebnis katastrophal. Der Zuschauer bleibt zurück und denkt: Eigentlich ist es ein Wunder, dass nicht jeden Tag unzählige Amokläufer Schneisen der Verheerung durch den irrsinnigen Alltag schlagen.

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Titel

Orignaltitel

Warum läuft Herr R. Amok?

Englischer Titel

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Credits

Regisseur

Rainer Werner Fassbinder

Michael Fengler

Schauspieler

Franz Maron

Kurt Raab

Lilith Ungerer

Land

Flagge DeutschlandDeutschland

Jahr

1970

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