Warum vergisst man nicht, was man besser vergäße?

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„Away from Her“ von Sarah Polley

Seit 44 Jahren sind Grant (Gordon Pinset) und Fiona (Julie Christie) verheiratet und in dieser Zeit waren sie kaum einen Tag nicht zusammen. „She had the spark of life - I never wanted to be away from her“, sagt Grant und man sieht die Super 8 Erinnerung an eine sehr hübsche junge Frau und dann die ältere noch immer sehr schöne Frau, die Fiona heute ist. Und eines Tages räumt sie die Bratpfanne in den Kühlschrank – damit fängt es an. Dann fehlen ihr mal einzelne Worte, Fiona kann sich einfach nicht erinnern, wie dieses alkoholische Getränk aus Trauben heißt. Das Schlimmste: Fiona nimmt diesen Verfall vollkommen klar zur Kenntnis....

Irgendwann weiß sie nicht mehr, dass sie seit 20 Jahren in dem schönen Cottage am See wohnen und verläuft sich ein Mal im Wald. Die beiden beschließen, dass Fiona sich in ein Pflegeheim einliefern lässt. Sie will das noch bewusst und selbst entschieden tun. Grant zögert, er will sie nicht verlieren. Aber sie will es. Ihr Abschied an jenem Tag, bevor sie sich 30 Tage nicht sehen dürfen, ist nicht nur ein Abschied von ihrem Leben. Ohne dass Grant es ahnen kann, wird der letzte Kuss, den er seiner Frau gibt, der letzte Kuss für eine Frau sein, die weiß, dass sie Grants Frau ist und er ihr Mann. Ein letzter Kuss bevor sie geistig hinter einem Schleier verschwindet und tatsächlich zu jemand anderem wird. Das ist schrecklich bitter und traurig.

Was macht einen Menschen zur Person, zur Persönlichkeit? Nicht nur der Körper, die physische Erscheinung, sondern vor allem der Charakter und eine Mischung aus emotionalen und geistigen Erinnerungen. Die Frage nach dem „Ich“, also dem Bewusstsein, jemand zu sein, erfordert dabei nicht nur andere Menschen, die man als „Andere“ wahrnimmt, sondern auch ein Bewusstsein von sich selbst: wer man ist, wo man her kommt.
Diese Systematik ist für Grant und Fiona aus den Fugen geraten, als sie sich nach 30 Tagen in dem Pflegeheim nicht mehr an Grant erinnert und ihre Ehemann für sie nur noch ein netter Bekannter ist, der regelmäßig zu Besuch kommt, sie aber auch ein bisschen verwirrt - eine Verwirrung, die sie gern vermeiden möchte.
Sie hat einen neuen Mann gefunden, ein anderer Alzheimer Patient, der ihr ein und alles ist, jemand den sie pflegen und behüten kann, der sie nicht verwirrt und sich offenbar auch in sie verliebt.
Grant ist tief erschüttert, aber lässt sie gewähren, kommt noch immer so oft wie möglich, liest ihr wie früher vor und erzählt ihr manchmal von ihr und sich, worauf sie nur mit floskelhaften Sätzen antwortet und schnell wieder zu ihrem Aubrey flüchtet. Und wie Grant glaubt man manchmal das kann doch nicht sein, sie spielt ein Spiel mit ihm.
Auch wenn zuvor ein paar Andeutungen gemacht wurden, so scheint auch Grant Fionas Wandlung irgendwann als eine Art höhere Gerechtigkeit zu verstehen, denn offenbar hat er sich nicht immer so rührend um sie gekümmert, hat sie in den 44 Jahre auch verletzt und betrogen. And now ist payback time.
Am Ende entschließt sich Grant, dem es nur noch darum geht, dass dieser Mensch, der mal Fiona war, glücklich wird, sein eigenes Ego zu vergessen, sich quasi selbst ebenfalls zum Vergessen zu zwingen, und seiner geliebten Frau einen Dienst erweisen, um sie nochmals glücklich zu sehen.

Ein wunderbarer, rührender, sehr reifer Film. Sarah Polley sagte auf die Frage wie jemand in ihrem Alter einen so weisen Film über das Alter drehen könne, dass sie sich sehr eng an die Kurzgeschichten Vorlage („The Bear came over the montain“ von Alice Munro) gehalten habe und einfach mit zwei grandiosen Schauspielern arbeiten durfte. Außerdem habe sie selbst zwei Fälle von Alzheimer in der Familie, kenne sich also durchaus ein wenig mit dieser schrecklichen Krankheit aus.

Nach dem Film blieben noch viele in ihren Sitzen, wischten sich um die Augen, starrten vor sich hin ins Leere, weil dieser Film so viele Fragen über die Liebe, das Leben und die große Frage „Wer bin ich?“ aufwirft. Einfach aufstehen und gehen, das war eine Weile so schwer, wie für Fiona sich an dieses Wort zu erinnern. Bis sie auch vergessen hatte, dass es das Ding selbst gab, worauf sie ruhig wurde, weil, was man nicht benennen kann, das existiert auch nicht.
Diesen Film gibt es und er ist toll!

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Titel

Orignaltitel

Away From Her

Credits

Regisseur

Sarah Polley

Schauspieler

Julie Christie

Wendy Crewson

Olympia Dukakis

Michael Murphy

Gordon Pinsent

Land

Flagge KanadaKanada

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