Wettbewerb: Zemestan (It's Winter) von Rafi Pitts

Ein Mann geht, ein anderer kommt

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Es schneit. Es ist kalt. Es ist Winter. Die einzigen schwarzen Punkte im Schnee sind die Gleise und ein hagerer Mann, der langsam an ihnen entlang geht. Aus dem Off erklingt ein Gedicht von Mehdi Akhavan Saless. Es erzählt davon, wie im Winter die Menschen den Gruß nicht erwidern, weil sie den Kopf zwischen den Schultern und den Kragen hochgeklappt haben.

Rafi Pitts Film "Zemestan" erzählt von Arbeit und Arbeitssuche, vom Weggehen und Bleiben, von Traum und Realität, und auch vom Winter: nicht nur vom tatsächlichen, sondern auch vom metaphorischen in der Gesellschaft. Und es geht um lebensnotwendige Farbtupfer.

Irgendwo im südlichen Iran kann der Arbeiter Mokhtar seine kleine Familie nicht mehr ernähren, weil er seinen Job verloren hat und keinen neuen findet. Es heißt, im Ausland sei alles besser. Deshalb lässt er Frau und Kind zurück und steigt in den Zug.

Ein Mann geht, ein anderer kommt. Aus dem Norden des Landes, wie er erzählt. Der Mann heißt Marhab, das bedeutet Willkommen, und er sieht ein bisschen aus wie ein persischer James Dean – mit schnittigen Koteletten und rebellischer Attitüde. Er würde gerne als Spezialmechaniker für Kranreparaturen arbeiten, denn dafür ist er ausgebildet, aber die Stadt heißt ihn nicht willkommen.

Die Stadt ist sogar ausgesprochen abweisend. Neuankömmlinge werden misstrauisch beäugt. Dort, wo man besser verdient, machen massive Gitter und dicke Wächter den Zugang unmöglich. Arbeit – auf einem Schrottplatz mit integrierter Reparaturwerkstatt – findet Marhab erst, nachdem er einen Freund gefunden hat.

Marhab eckt an, weil er nicht so den Kopf einzieht, wie es von ihm erwartet wird. Er gibt dem Boss Widerworte, fordert seinen ausstehenden Lohn ein. In dem harten Überlebenskampf der Arbeiterklasse, den "Zemestan" zeichnet, ist Marhab derjenige, der ausbricht, Grenzen nicht einfach so akzeptiert und sein Recht auf Glück einfordert. Egal, ob es darum geht, eine fünfminütige Zigarettenpause auf einem stillgelegten Kran einzulegen, weil einem da oben der Wind so schön um die Nase weht, oder wenn er der schönen Khatoun höflich aber hartnäckig den Hof macht.

Denn inzwischen ist Khatouns Mann, der zu Anfang des Films in den Zug gestiegen ist ist, für tot erklärt worden. Seine Familie hat seit Monaten nichts von ihm gehört – schließlich war die Polizei zu Besuch bei der jungen Frau. Am nächsten Tag trägt sie auf der Arbeit ein schwarzes Kopftuch.

In "Zemestan" herrscht eine fahle Tönung der Bilder vor – selbst wenn der Schnee geschmolzen ist. In der Textilfabrik, wo Khatoun arbeitet, sind die hellblauen Kopftücher der Frauen der einzige Farbtupfer. Die Gebäude sind entweder halb verfallen oder halb fertig und im schlimmsten Fall beides. Von einer engen Gasse, durch die die Figuren immer wieder gehen, sieht man nur die anscheinend nicht mehr existente Ladenfront mit ihren geschlossenen hölzernen Rollläden. Die Werkstatt ist umringt von Haufen von verblichenem, rostigen Metall. Khatouns Haus sieht aus wie ein Rohbau vor dem Abriss.

In dieser monochromen Stimmung sorgt Marhab für Auflockerung: Auf sein Drängen finden er und sein Freund für einen Abend Abwechslung beim Flanieren vor bunten Schaufensterauslagen. Khatoun bringt er als Geschenk einen knallroten Teppich – das Geld dafür stammt allerdings von seinem Kumpel. Dann heiraten Marhab und Khatoun, und als die beiden gemeinsam durch die Stadt spazieren, sieht man die junge Frau das erste Mal lachen. "Ich bin Mechaniker," sagt Marhab einmal, "ich repariere Dinge".

Rafi Pitts ist aber weit davon entfernt, eine hübsche Erfolgsgeschichte zu erzählen. Denn plötzlich ist der Mann, der am Anfang gegangen ist, wieder da. Nur ohne Bein. Und Marhab hat inzwischen seinen Job verloren und will selbst ins Ausland gehen.

Man kann diesen Film als gesellschaftskritische Parabel über den Iran lesen. Man kann ihn als Studie über den Überlebenskampf der einfachen Menschen sehen. Man kann seine Bildersprache und reiche Metaphorik bewundern. Die Stärke des Films liegt darin, dass er auf allen Ebenen funktioniert. Und: "Zemestan" gibt keine einfache Antwort darauf, was richtig ist. Er fordert aber auf, darüber nachzudenken.

Kommentare ( 4 )

Ich hab zwar etwa 10 Minuten des Films verschlafen, aber wie sagt Godard (oder ein anderer Franzose): Im Kino schlafen, heißst sich dem Film anvertrauen.
Was ich dann gesehen habe, war sehr langsam und stark. Alle im Film sind immer unterwegs, vor allem die Hauptfigur Marhab latscht und läuft und flaniert die ganze Zeit durch Gassen, entlang großer Strassen, über Einkaufsboulevards und entlang der Schienen. Er kommt nicht zur Ruhe. Das fand ich klasse, wie er durch die physische Bewegung hofft, Bewegung in sein Leben zu bekommen, wie er ein Mal über den Zaun der grosssen Autofabrik springt um dort Arbeit zu bekommen, wie er dann die Scheiben von Autos einschlägt, als sie ihn wieder vom Gelände schicken. Angry Young Man. Die Drogis im Iran, die Frustration, das wirtschaftliche Elend der Leute - das zeigt derr Film, wie auch schon die meisten anderen iranischen Beiträgen. Ob der Film allerdings im Wettbewerb richtig aufgehoben ist, wage ich zu bezweifeln.

Schöner Film, schöner Text!

Man muss nicht jeden Iran-Film als "iranische Gesellschaftskritik" lesen. Die meisten Iraner sind trotz Mullahs viel zu stolz auf ihr Land als es immer nur zu kritisieren. Natürlich sind gerade Künstler und Intellektuelle frustriert über Korruption, Stillstand, Zensur - kein Wunder dass auch aus den Filmen keine gute Laune quillt. Aber wenn "Zemestan" etwas kritisiert, dann nicht die iranische Gesellschaft, sondern menschliche Gesellschaft überhaupt.

Meiner Meinung nach ist der Film übrigens im Wettbewerb genau richtig, weil er einen hohen filmischen und künstlerischen Anspruch hat und einlöst und in einer bestimmten Tradition steht ohne bloß nachzuäffen - was man wahrlich nicht von allen Beiträgen behaupten kann.

ja sicher unter dem Aspekt der Authenzität und der eigenen filmischen Vision ist Zemestan im Wettbewerb richtig. Aber gerade weil da der Mainstream dominiert und Filme für Roten Teppich und Stars und das ganze Jeiiho tauglich sein müssen, kann er da glaub ich schnell untergehen. Er wird dann wohl nur einen Preis als Statement bekommen können. Was ja auch schon was wäre. aber wir wollen nicht streiten, gell?

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Titel

Orignaltitel

Zemestan

Englischer Titel

Its Winter

Credits

Regisseur

Rafi Pitts

Schauspieler

Hashem Abdi

Mitra Hadjar

Ali Nicksolat

Said Orkani

Land

Flagge Islamische Republik IranIslamische Republik Iran

Jahr

2005

Dauer

86 min.

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