ALMANYA - WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND von Yasemin und Nesrin Samdereli

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Schon vor 7 Jahren sollte er gemacht werden, dann sprang ein Sender ab. Im Nachhinein ein Glück für den Film glaube ich. Denn es gibt die richtige Zeit für den richtigen Film. Nach nunmehr irrwitzig gewordenen Debatten über Migration und Integration im vergangenen Jahr, trifft der Film Almanya von dem Geschwisterpaar Yasemin und Nesrin Samdereli genau auf den Punkt. Das hier ist seine Zeit. Ein sehr schöner, berührender Film. Würde er nicht außer Konkurrenz laufen, wäre er ein heißer Bärenkandidat.

Ein bisschen wie bei Good bye Lenin, der auch so viele Jahre warten musste und dann lange nach der Wende in seiner Mischung aus Witz, Humor, Melancholie genau den Ton zur richtigen Zeit traf. Auch in Good bye Lenin ging es ja um die Abwehr bzw. Umarmung einer neuen Kultur und den Verwerfungen in der Familie, die Veränderungsbereitschaft auf der einen und das Verharren auf der anderen Seite.

In Almanya haben die beiden Filmemacherinnen das Kunststück vollbracht, trotz Rückblicken, Traumsequenzen, Dokuelementen und Erzählstimme aus dem Off eine nie langweilige Geschichte zu erzählen - alles ansonsten meist Zutaten für inkohärente, gebremste Filme, in denen Dinge erklärt werden müssen, weil der Film mit Bildern und Figuren allein nicht auskommt. Hier nicht! Alles greift ineinander, die Figuren sprechen für sich und miteinander, sind glaubwürdig über Jahrzehnte hinweg, die Erzählstimme ergänzt und gibt dem Film auch Rhythmus. In den Figuren berühren sich Vergangenheit und Gegenwart, zeigen sich überall die Spuren der Familiengeschichte, selbst bei den jüngsten, die noch gar nicht dabei waren. Und dabei geht es manchmal absurd zu, Klischees werden geritten und geradezu Amelie-hafte Momente geschaffen, in denen Vorstellung und Geschehen verschwimmen.

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Die eigentliche Geschichte ist schnell erzählt: Hüseyin Yilmaz (Fahri Yardim/Vedat Erincin) kommt in den 60er Jahren zum Schuften als der 1Millionen und Erste „Gastarbeiter“ (man dachte ja, diese Menschen kommen und gehen wie Gäste) nach Deutschland. Irgendwann holt er seine Frau und drei Kinder nach, die ohne ein Wort Deutsch zu können (so machte man das damals) in die Schule kamen. Mutter zu Haus, Vater auf dem Bau, fünf Leute auf 60 Quadratmeter, Klo auf dem Gang. Aber damals verdiente man noch genug, dass man sich irgendwann etwas leisten konnte. Darum wohnt die Familie Yilmaz fast 40 Jahre später zusammen in einem Mietshaus von drei Generationen. Die Familie plant dann eine Reise in die Türkei, wo Opa ein Haus gekauft hat, was natürlich die großen und kleinen Familienkonflikte aber auch Integrationskonflikte und -fragen aufkommen lässt. Darunter die ganz Große: Wer ist Türke, wer ist Deutscher - und spielt das überhaupt einer Rolle? Und wie verhält man sich überhaupt "richtig", sowohl in der Familie und in der Gesellschaft.

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Ganz anders als der schrecklich angestrengte Film Shahada aus dem letzten Jahr schafft es Almanya in bei der Erzählung von Integration und Familienkonflikt die Balance zwischen witzig, ironisch, traurig bis tragisch immer zu halten. Vielleicht weil er von einer Wirklichkeit erzählt, ohne lediglich Tragik und Probleme zu zeigen, sondern die emotionale Entwicklungslinien, auch die witzigen und gewinnbringenden Anteile der Migration. Im Kern ist Familie, wie auch immer zusammengesetzt und wo auch immer geformt vor allem eine „Gemeinschaft der Erzählung“, einer gemeinsamen Geschichte, die man als „Wirklichkeit“ oder auch „Vergangenheit“ nennt. Gleiches gilt für eine Nation.

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Großartig schaffen es die beiden Filmemacherinnen die Auswirkungen von Familiengeschichte, von Fremdheit und Dazugehörigkeit über Sprache abzubilden. Sie nutzen im Film den Charly Chaplin Kniff aus dem Großen Diktator mit einem Kunstdeutsch, das immer erklingt, wenn die Figuren nichts verstehen.
Sie lassen aber auch die Türken in der Türkei astreines Deutsch sprechen und dann aber wieder Türkisch, je nachdem, wer die Geschichte erzählt oder was die Szene beschreiben soll. Sehr stimmig.

Kinder sind die kulturellen early adopter schlechthin. Sie sprechen einfach beide Sprachen, ohne sich einen Kopf zu machen, was das bedeutet, nehmen sich aus beiden Welten, was für sie passt. Vorausgesetzt man lässt sie: und das betrifft sowohl die Eltern wie die sie umgebende Kultur.
Diese Filmfamilie ist ein Ganzes und Teil des Ganzen. Sie sind die Integration, wie sie ist. Und das ist der Film darüber. Zum Lachen, zum Heulen, zum Begreifen. Toll.

Kommentare ( 2 )

Der Kniff mit der Kunstsprache ist wirklich genial und macht für jeden nachvollziehbar, wie es sein muss, plötzlich in einem Land zu leben, in dem man die Menschen nicht versteht. Nach einem für meinen Geschmack etwas zu kalauermäßigem Auftakt gewinnt der Film immer mehr an Tiefe. Insgesamt eine intelligente und unterhaltsame Mischung aus Komödie und Drama zum Thema Integration und Identität.

Ich habe heute den Film gesehen. Ein schöner Film - vielen Dank dafür!

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Titel

Orignaltitel

Almanya

Deutscher Titel

Willkommen in Deutschland

Credits

Regisseur

Yasemin Samdereli

Schauspieler

Vedat Erincin

Aykut Kayacik

Arnd Schimkat

Petra Schmidt-Schaller

Fahri Ögün Yardim

Drehbuch

Land

Flagge DeutschlandDeutschland

Jahr

2011

Dauer

101 min.

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