Berlinale 2024: MÉ EL AÏN (WHO DO I BELONG TO?) von Meryam Joobeur

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© Tanit Films, Midi La Nuit, Instinct Bleu

Ein Dorf im Norden Tunesiens, nicht weit entfernt von den Klippen und dem Strand zum Mittelmeer. Eine Bauernfamilie, Mutter Aicha, Vater Brahim und drei Söhne führen ein karges, aber von Liebe geprägtes Leben. Eines Nachts verlassen die älteren beiden Söhne heimlich das Zuhause. Bald wird den Eltern klar: Sie haben sich als IS-Terroristen dem syrischen Bürgerkrieg angeschlossen. Als nach einigen Monaten nur einer der beiden Söhne, Mehdi – offensichtlich traumatisiert – heimkehrt, hat er eine geheimnisvolle, vollverschleierten und hochschwangere Frau bei sich. Plötzlich geschehen merkwürdige und gewaltsame Dinge in dem kleinen Dorf. Der Wettbewerbseitrag MÉ EL AÏN der tunesisch-kanadischen Regisseurin Meryam Joobeur ist eine souverän inszenierte Annäherung an das Grauen, das Krieg und Terror bei den davon betroffenen Menschen auslösen.

Der Film beleuchtet dieses große Thema ausgehend von spezifischen Fragen: Wie gehen ein Individuum, eine Familie und eine Gemeinschaft mit Schuld um? Kann mütterliche Liebe und Verständnis Wunden heilen? Oder doch nur die strenge Suche nach der Wahrheit? Trifft Rache letztlich immer die Falschen?

Gegliedert in Prolog und drei Hauptteile (mit dem Fokus auf die Rückkehr Mehdis, die Dunkelheit, die sich daraufhin im Dorf ausbreitet, und das Erwachen aus diesem Albtraum) konzentriert sich der Film stark auf die Hauptfigur der Mutter Aicha. Diese ist innerlich zerrissen: zwischen der unbedingten Liebe zu ihren Kindern und dem verzweifelten Wunsch, sie zu beschützen auf der einen Seite, und andererseits dem Wissen, dass sie wissen muss, was in der Fremde passiert ist – und dass ihr Sohn Mehdi es ihr erzählen muss, um irgendwie weiterleben zu können. Träume und Visionen, filmisch eindrucksvoll mit der erzählten Realität verknüpft, scheinen Aisha Schritt für Schritt mitzuteilen, was sie nicht zu wissen erträgt.

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© Tanit Films, Midi La Nuit, Instinct Bleu

Die vor allem als Theaterschauspielerin bekannte Salha Nasraoui spielt Aicha zurückgenommen, aber mit großer emotionaler Intensität. Die Kamera schaut ihr bei alltäglichen Verrichtungen im Haus und auf dem Hof zu und ist in Close-ups ganz nah bei ihr, wenn sich im Laufe der Geschichte allmählich lähmende Hilflosigkeit, Trauer und Entsetzen auf ihrem Gesicht ausbreiten. Dabei ist Aisha zugleich eine starke Frau: Sie verteidigt gegenüber ihrem Mann hart und eisern die Entscheidung, ihrem Sohn und der unbekannten Frau Unterschlupf zu gewähren, obwohl das die Familie in große Schwierigkeiten bringen kann. Sie ist bemüht, ihrem jüngsten Sohn, dem achtjährigen Adam, weiter Sicherheit und Geborgenheit zu geben, und sie versucht sogar, eine Verbindung zu der geheimnisvollen Fremden aufzubauen.

Von dieser Frau sehen wir nur die leuchtend blauen Augen unter dem Gesichtsschleier und ihre Hände, an deren Fingernägeln noch Reste von rotem Nagellack zu erkennen sind. Sie spricht kein einziges Wort, isst und trinkt in Gegenwart der Familie nichts.

Ohne zu spoilern kann hier nicht erzählt werden, was nun genau geschieht, aber so viel sei gesagt: ein brutal erschlagenes Schaf ist nur der Anfang. Bald droht das das Unheil das gesamte Dorf – wortwörtlich – in den Abgrund zu stürzen. Der Film benutzt dabei Elemente des magischen Realismus, um dem grausamen inneren Konflikt, um den es hier geht, eine äußere Form zu geben. Das tut er konsequent, mit sparsamen aber effektiven Mitteln und sehr, sehr gut.

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Meryam Joobeur hat MÉ EL AÏN aus ihrem mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten und für einen Oscar nominierten Kurzfilm BROTHERHOOD (2018) heraus entwickelt. Damals hatte sie bereits dieselben drei rothaarigen, sommersprossige Hirtenjungen (und Brüder) aus Nordtunesien als Laienschauspieler gecastet, die auch hier die Söhne von Aicha spielen. Sowohl Malek Mechergui als Mehdi als auch der kleine Rayen Mechergui als Adam bestehen ohne Probleme neben ihren professionellen Schauspielkollegen. In dem Ensemble überzeugen neben der herausragenden Salha Nasraoui als Aicha auch Mohamed Hassine Grayaa als strenger, aber sensibler Vater und Adam Bessa in einer wichtigen Nebenrolle als Polizist und Jugendfreund der Brüder.

Es bleibt die Frage, weshalb die Gründe, warum junge Männer sich radikalen, gewaltbereiten, fundamentalistischen Terrorgruppen anschließen, in diesem Film so gut wie nicht thematisiert werden. Und warum die Gemeinschaften, aus denen diese jungen Männer kommen, hier als weitgehend idyllisch und unpolitisch dargestellt werden. Man kann das schwierig finden, aber der klare Fokus des Films ist andererseits seine Stärke. Meryam Joobeur hat sich dazu entschlossen, die Themen Terror, Schuld und Gewalt auf der persönlichen und familiären Ebene zu verhandeln. Mit einer ganz eigenwilligen cineastischen Handschrift und mit der Bereitschaft, die Grenzen der Realität auszutesten. Das wiederum ist mutig und souverän.

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Titel

Orignaltitel

MÉ EL AÏN

Englischer Titel

Who Do I Belong To

Credits

Regisseur

Meryam Joobeur

Land

Flagge FrankreichFrankreich

Flagge KanadaKanada

Flagge TunesienTunesien

Jahr

2024

Dauer

117 min.

Film-Emoji

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