Berlinale 2023: Wer trägt den Schleier?

Porträt einer jungen Frau

Die Potsdamer Filmstudentin Sophia Mocorrea ist mit ihren Abschlussfilm über eine argentinisch-brandenburgische Hochzeit Gast auf der Berlinale.

Eine Filmcrew kurz vor dem Dreh, zum Set gehört ein Brautkleid. Und nun geschieht etwas Ungewöhnliches: Reihum probiert die gesamte Crew, von den Schauspielern bis zum Kameramann, das Kleid an. Warum? „Es war mir wichtig, dass alle ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, so ein Kleid zu tragen - was es mit dir macht“, sagt Sophia Mocorrea.

Offensichtlich scheut die Regisseurin, ausgebildet an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, nicht vor unkonventionellen Methoden zurück, um ihrem Team eine bestimmte Stimmung, ein Gefühl zu vermitteln. Das ist wichtig, weil sich dadurch diese Stimmung auf den Film überträgt – über die Schauspieler, über die Kamerabilder, bis hin zu Ton, Licht und Schnitt. In Sophia Mocorreas Berlinale-Beitrag EL SECUESTRO DE LA NOVIA, zu Deutsch „Die Entführung der Braut“ ist das Experiment geglückt: Diese kleine Geschichte rund um eine deutsch-argentinische Hochzeit in Brandenburg schafft es, verschiedene Gefühlslagen zwischen Euphorie und Klaustrophobie stimmig von der Leinwand auf die Zuschauer zu übertragen.

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Aha, Gefühl, denkt man sich. Und weiß: Sophia Mocorrea hat eine argentinische Mutter und einen deutschen Vater. Sie ist in Münster aufgewachsen, hat jedoch einen großen Teil ihrer Kindheit in Buenos Aires verbracht. „Argentinien ist meine emotionale Heimat“, sagt die 31-jährige. Die große Familie mütterlicherseits trägt zu dieser Verbundenheit bei. Sich zwischen den Kulturen zu bewegen war schon immer Normalität für Sophia Mocorrea – schon allein durch die Sprache. Unterhaltungen zwischen Mocorrea und ihrer älteren Schwester wechselten immerzu, ohne dass die Schwestern groß darüber nachgedacht hätten, nahtlos zwischen deutsch und spanisch hin und her. Sprache ist Vertrautheit, oft auch Heimat. Für Mocorrea sind beide „Heimaten“ Teil ihrer emotionalen Familie.

Mocorrea studiert Regie in Babelsberg. EL SECUESTRO DE LA NOVIA ist ihr Abschlussfilm – und zur diesjährigen Berlinale eingeladen. Koproduziert von der Filmuni und dem rbb läuft er in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“. Ende Januar war der 30-Minüter gar auf dem renommierten Sundance Festival in Utah zusehen. Für jede junge Filmemacherin wäre eine Einladung zu dieser wichtigsten Plattform für Independent-Produktionen eine ganz besondere Auszeichnung. Mocorrea ist ein paar Tage später, im Videocall aus New York, noch immer ganz beseelt von den positiven Reaktionen, die der Film in Sundance bekommen hat. Zunächst sei sie erstaunt darüber gewesen, wie gut der Film dort verstanden wurde. „Aber natürlich gibt es auf dem Festival eine große Latino Community – bestimmte Nuancen, etwa wie die argentinische Familie in dem Film tickt, haben die sehr gut verstanden.“

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Wenn der Film auf der Berlinale gezeigt wird, darf Mocorrea wiederum auf den hiesigen Wiedererkennungswert hoffen. Vieles, was im Film geschieht, ist kulturell brandenburgisch konnotiert, wenn man so will. Die Filmemacherin selbst lebt in Berlin, aber sie liebt Brandenburg: „Brandenburg hat so einen Charme! Und es gibt dort tolle Orte, um zu drehen!“

In dem Film geht es um ein junges Liebespaar, irgendwo in der märkischen Provinz: Luisa aus Argentinien und Fred aus Brandenburg. Sie verstehen sich quasi stumm. Ihr Miteinander gehorcht eigenen Regeln, ist emanzipiert, leicht und verspielt, funktioniert jenseits von konventionellen Geschlechterrollen. Fred ist einer, der sich nicht doof vorkommt, wenn er sich für seine Liebste eine Gardine überwirft, um die Braut zu markieren. Doch mit dem Hochzeitstermin rückt auch die Verwandtschaft näher – sowohl von hier als auch von dort. Und plötzlich werden die jungen Leute mit Traditionen konfrontiert, die ihr eigenes Rollenverständnis und ihre Liebe fundamental durcheinanderwirbeln.

Interessanterweise geht es bei dem zentralen Aufeinanderprallen der Kulturen weniger um den Gegensatz zwischen feurigem Südamerika und bräsigem Brandenburg – altbackene Vorstellungen über die Ehe und die Rolle von „Mann“ und „Frau“ darin sind hier wir da fest in der Gesellschaft verankert. Die Brautentführung – vom Ursprung her ein zutiefst archaischer und patriarchaler Brauch – findet sich in vielen Teilen der Welt, und eben auch in Brandenburg. In Argentinien hingegen nicht. Der Clash findet zwischen Menschen statt, die solche Traditionen lieben und leben, und solchen, die sie infrage stellen. Besonders spannend wird es, wenn vermeintliche Traditionsverächter sich fragen müssen, ob sie nicht vielleicht doch stärker in der Tradition verhaftet sind, als sie es sich eingestehen.

Es interessiert Mocorrea, wie Menschen in eine Rolle „reinschlittern“, wie sie sagt. Wie sie plötzlich Erwartungen erfüllen, die sie stets abgelehnt haben. Muss man zusammenziehen, wenn man heiratet? Was ist mit Kindern? Die junge Generation, die aktuell vor diesen Fragen steht, beantwortet sie oft ganz anders als ihre Eltern. Nur um dann, wenn es ernst wird, festzustellen, dass es gar nicht so einfach ist, sich aus einem Korsett zu befreien, das die Gesellschaft zwar einschnürt, aber doch irgendwie zusammenzuhalten scheint.

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Ein anderes Thema, das Mocorreas Film klug und fast nebenbei abhandelt, ist das Gefühl von Fremdsein, das eine Argentinierin Brandenburg durchaus ereilen kann: „Wann kippt ein Moment und Dir wird klar: Die anderen denken, Du gehört nicht hierher. Und wie reagierst Du dann?“ Wenn die Regisseurin über diese Dinge spricht, ist da sehr viel mehr als „nur“ Gefühl. Vielmehr: scharfe Analyse, genaues Hinschauen. „El secuestro de la novia“ ist eine Art Fingerübung für einen Langspielfilm, der die Geschichte von Luisa und Fred ausbaut und bereits in Arbeit ist. Produzentin auch hier Mocorreas Babelsberger Mitstudentin Sarah Valerie Radu, mit der sie bereits ihren Erstling, den preisgekrönten Kurzfilm „Las Matadoras“, umgesetzt hat.
Vor der Europapremiere des Films auf der Berlinale darf nur wenig über den Inhalt verraten werden, aber diese Szene dann doch: Frisch geschorene Lamas und Alpakas werden von der deutsch-argentinischen Großfamilie in spe durch ein märkisches Dorf spazieren geführt. Das darf man freilich symbolisch sehen, mit Sicherheit aber ist es eine wunderbar verspielte Idee.

Fotos: Jacob Sauermilch

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Titel

Orignaltitel

El secuestro de la novia

Englischer Titel

The Kidnapping of the Bride

Credits

Regisseur

Sophia Mocorrea

Schauspieler

Niels Bormann

David Bruning

Anne Kulbatzki

Patricia Pilgrim

Andreas Rogsch

Tatiana Saphir

Rai Todoroff

Jeannette Urzendowsky

Daniel Wendler

Michaela Winterstein

Jahr

2023

Dauer

30 min.

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