Berlinale 2022: LEONORA ADDIO von Paolo Taviani

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Luigi Pirandello wird 1934 der Nobelpreis für Literatur verliehen. Da sitzt er nun in Stockholm, geschniegelt und gebügelt, aber richtig glücklich sieht er nicht aus. In der Tat: "Ich habe mich noch nie so einsam und traurig gefühlt", sagt die Stimme aus dem Off; Pirandello selbst hat das so in einem Brief geschrieben. Im selben Jahr kehrt er nach Rom zurück, zwei Jahre später ist er tot. Seine Asche, so hat er verfügt, soll "in einen groben Stein eingelassen" in seiner Heimat Agrigent auf Sizilien bestattet werden. Der Duce sieht das anders. Die Asche bleibt in Rom. Erst zehn Jahre später, der Weltkrieg ist vorbei, Mussolini-Italien ist untergegangen, wird die Urne nach Sizilien überführt. Die Geschichte dieser Reise liefert den Stoff für den ersten Teil von LEONORA ADDIO, dem Wettbewerbsbeitrag des 90-jährigen Paolo Taviani.

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Der Film ist ein "spettacolo", wie Taviani in der Pressekonferenz sagt, eine Inszenierung, eine Theatervorstellung. Dem Zuschauer soll das zu jeder Zeit bewusst sein. Und so hebt LEONORA ADDIO mit einer Kameraschuss in die reich verzierte Kuppel des Teatro Valle in Rom an und schließt auch mit diesem Blick – und Applaus. Dazwischen inszeniert Taviani Geschichten und Geschichte. Im ersten Teil komplett in schwarz-weißen Bildern: Die Sterbeszene Pirandellos in einem modernen Bühnensetting, während die Kinder des Dramatikers an sein Bett treten und im Zeitraffer altern. Ein Slapstick-artiger Kurzauftritt des Duce: "Idiot!" schreibt er an die beschlagene Fensterscheibe seines Palazzo, als er von Pirandellos letztem Willen erfährt. Filmschnipsel aus Klassikern des Neorealismo, von Rosselini bis De Sica, auch ein Film über das von Deutschen an italienischen Zivilisten verübte Massaker an den Ardeatinischen Höhlen ist dabei. Und schließlich, als Kern des ersten Teils des Films, die abenteuerliche Reise eines sizilianischen Beamten quer durch das Nachkriegsitalien, um die Asche des Dichters, in einer Holzkiste verstaut, sicher nach Agrigent zu bringen.

Tragik und Komödie vereinen sich zu einem Panoptikum über den Krieg und die Nachriegszeit in Italien

Auch hier kombiniert der Regisseur tragische und komödiantische Elemente: Die Friedhofswärter in Rom geben dem Beamten im schönsten Romanesco zu verstehen, er solle sich mal nicht so aufregen, sie würden schon behutsam beim Aufbrechen des Urnengrabs vorgehen – und lassen sich diese Vorsicht gerne mit amerikanischen Zigaretten bezahlen. Die Passagiere einer eigens für die Überführung gecharterten US-Militärmaschine fliehen entsetzt, als sie begreifen, dass sie mit einem Toten an Bord reisen sollen. Im Zug, oder besser: im Güterwaggon nach Sizilien, trifft der Beamte auf elende, abgerissene Gestalten: Flüchtlinge, Kriegsheimkehrer, entlassene Zwangsarbeiter. Dreckige Füße, Tanz und Klavierspiel und ein spontaner Kistenklau zwecks dringend benötigter Unterlage für ein Kartenspielchen inklusive. Die Volkstheaterelemente ergänzen sich mit den Filmfragmenten und Archivmaterial zu einem Panoptikum der Kriegs- und Nachkriegsjahre in Italien. Sie vereinen sich zu einer "anderen Art der Wahrheit" über diese Zeit, wie Taviani sagt.

Als der Zug auf Sizilien ankommt, ist diese Notgemeinschaft von versprengten Seelen selig: Sie sind in der Heimat angekommen. So wie Pirandello jetzt auch. Und dann wird das Meer blau.

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Die Heimat, der Verlust derselben, und die Traumata, die ein solcher Verlust auslösen kann, sind auch Themen des zweiten Teils von LEONORA ADDIO. Hier wechselt der Film in Farbe. „Der Nagel“ wird hier verfilmt, die letzte Novelle von Pirandello, nur wenige Tage vor seinem Tod vollendet. Ein kleiner sizilianischer Junge wandert mit seinem Vater nach Amerika aus. Die Mutter bleibt zurück. Sechs Jahre später hat sich der Halbwüchsige scheinbar an das neue Leben gewöhnt. Im Restaurant seines Vaters in Brooklyn bedient er souverän die Gäste, legt zwischendurch gerne mal eine kleine Steptanz-Nummer ein. Auch hier zeigt Taviani: Das Leben ist ein Theaterstück! Doch diesmal ist es keine Komödie. Besagter Nagel kommt zum Einsatz, als der Junge Zeuge davon wird, wie sich zwei kleine Mädchen wie streunende Hunde balgen. Der Junge ersticht – scheinbar ohne Grund – eines der beiden Mädchen. Von der Polizei zu dem Vorgang befragt, sagt er nur, der Nagel sei ihm an diesem Tag "mit Absicht" von einem vorbeifahrenden Karren direkt vor die Füße gefallen. Das Leben als vorherbestimmte Tragödie? Ist das die letzte Sicht Pirandellos auf die Welt? Die Hauptfigur der Nagel-Novelle jedenfalls wird bis an ihr Lebensende jedes Jahr einmal das Grab des kleinen Mädchens aufsuchen.

Noch einmal: "Leb wohl!"

Viel Reflexion über das Leben, das Altern, das Sterben also – und über die Geschichte, mit der wir groß werden. Über Komödien und Tragödien, die uns ausmachen, und die Italien ausmachen. Vielleicht nicht erstaunlich für einen Regisseur, der mittlerweile 90 Jahre alt ist. Seit 1954 hat Paolo Taviani ausschließlich mit seinem älteren Bruder Vittorio zusammen Filme gedreht und auch die Drehbücher dazu gemeinsam geschrieben. 2012 erhielten die beiden für CESARE DEVE MORIRE den Goldenen Bären auf der Berlinale. Vor vier Jahren ist Vittorio gestorben. LEONORA ADDIO ist der erste Film, den ein Taviano-Bruder alleine gedreht hat. Und obwohl Pirandellos Novelle "Leonora Addio" in der jetzigen Version des Films, anders als ursprünglich geplant, gar nicht mehr vorkommt, hat Taviani den Titel beibehalten. Und noch einmal "Leb wohl!" gesagt.


Filmstills: Umberto Montiroli

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Titel

Orignaltitel

Leonora addio

Credits

Regisseur

Paolo Taviani

Schauspieler

Dora Becker

Claudio Bigagli

Fabrizio Ferracane

Dania Marino

Matteo Pittiruti

Jahr

2021

Dauer

90 min.

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