Passt eine verdrängte Vergangenheit in einen Pappkarton? Und was passiert, wenn dieser geöffnet wird? MEMORY BOX von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige geht diesen Fragen auf eine wohltuend leichte, beschwingte Weise nach – obwohl der Inhalt des Erinnerungskartons wahrlich kein Komödienmaterial ist. Ein neugieriger Teenager befreit ein „weggepacktes“ Frauenleben aus dem Bürgerkrieg im Libanon aus der Erstarrung und setzt damit einen Heilungsprozess in Gang, der Mutter, Tochter und sogar die Großmutter mitberührt.
Die Mutter, Maia, hat als Teenager in Beirut ihrer besten Freundin regelmäßig Briefe, Fotos und Audiokassetten nach Frankreich geschickt, um sie auf dem Laufenden zu halten – und um sich den Druck von der Seele zu schreiben, zu reden, zu fotografieren. Ständige Angst und Bombardierungen, der Verlust des kleinen Bruders durch ein Attentat, die Verzweiflung der Eltern – aber auch die erste große Liebe, Ausflüge mit Freunden, die gestohlenen ausgelassenen Stunden voller Musik und Tanz sind Inhalt dieser Selbst-Dokumentation. Die Freundin, so scheint es, hat diese Dinge 40 Jahre lang aufbewahrt, nach ihrem plötzlichen Unfalltod schicken Freunde den Karton voll Erinnerungen an Maias neue Adresse in Kanada. Dort landet er kurz vor Weihnachten, von einer resoluten Großmutter konfisziert, erst mal im Keller. Doch bald durchstöbert die Tochter Alex heimlich den Inhalt und beginnt so, sich Stück für Stück einen eigenen Reim auf die geheimnisvolle und bislangstreng verschwiegene Vergangenheit der Mutter zu machen.
Dabei vermischt der Film die „echten“ Dokumente mit dem, was die fantasiebegabte Tochter daraus macht. Indem sie den Erinnerungen der Mutter nachspürt, macht sie ihre eigene Erzählung daraus – Fotos werden lebendig, Menschen laufen von einem Kontaktabzug in den nächsten, Musik ertönt, Szenen, von denen es keine Fotos gibt, werden in der Fantasie des Mädchens lebendig. Bei diesem Prozess der Wieder-Erinnerung wird die 1980er Jahre Ästhetik, die den Aufzeichnungen der Mutter zugrunde liegen, überraschend fruchtbar mit dem Smartphone-Look der Gegenwart vermischt. Das Rekonstruieren eines verschwiegenen Lebens wird so zu einer emotionalen und kreativen Arbeit, die stärkere emphatische Brücken bauen kann als eine bloße Erzählung. Parallel durchsucht zudem auch die Mutter heimlich den Karton und wird von den darin enthaltenen Erinnerungen eingeholt.
Nachdem das heimliche Eintauchen von Alex in die MEMORY BOX ans Tageslicht gekommen ist, muss die frisch aufgerissene Wunde erst einmal kräftig bluten, um dann heilen zu können – und das geht nur durch ein erneutes, diesmal reales Eintauchen in die Orte und Menschen aus der Vergangenheit. Dass die Mutter Maia diese Reise nicht alleine antreten muss, verdankt sie einem Paket, das mitten in einem kanadischen Schneesturm niemand erwartet hat.
Fotos: © Haut et Court - Abbout Productions - Micro_Scope