Berlinale 1972

Das Forum geht ins zweite Jahr und bildet einen starken Kontrapunkt zum Wettbewerb. Die „Zeit“ charakterisiert den Wettbewerb mit den Worten „roter Plüsch“, „feine Leute und bemühte Festlichkeiten“, während sich das Forum durch „Bärte und lange Haare, Gammel-Look, eine informelle Atmosphäre, Diskussionen“ auszeichne. In der Tat bietet das Forum einen politisch zugespitzten Blick in die Welt: die Zuschauer erfahren hier etwas über Hausbesetzungen in Harlem oder den Völkermord an den kolumbianischen Indios. Die Filme orientieren sich vorwiegend am Dokumentarischen – selbst wenn sie keine Dokus im engeren Sinn sind. Kritiker sehen darin eine bedenkliche Dominanz des Politischen über das Ästhetische.

Festivaldirektor Alfred Bauer stellt sich offiziell schützend vor das Forum, gut dokumentiert sind allerdings seine inoffiziellen Bauchschmerzen zum Thema: Er fürchtet einen Bedeutungsverlust des Wettbewerbs, und er beklagt, dass das Forum seiner dezidiert politischen Perspektive auf Kosten der filmischen Qualität fröne.

Erwähnenswert ist der Wettbewerbs-Beitrag L’UDIENZA von Marco Ferreri, der Kafkas „Das Schloss“ modifiziert, indem er die Geschichte an einer Papstaudienz aufhängt. Der große Allegoriker des italienischen Films sollte zwei Jahre später mit DAS GROSSE FRESSEN Furore machen. Den Goldenen Bären 1972 gewinnt Pier Paolo Pasolini mit I RACCONTI DI CANTERBURY (Pasolinis tolldreiste Geschichten), einem Teil seiner Trilogie der Sinnlichkeit. Die Variation auf Chaucer wird jedoch von der Kritik nicht gerade mit Begeisterungsstürmen aufgenommen.

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