Gleich an seinem ersten Morgen in Paris steht Yoav buchstäblich nackt da – jemand hat ihm in der riesigen, leerstehenden Wohnung, in der er übernachtet hat, Kleider, Rucksack und Gepäck geklaut, während er unter der Dusche stand. Im Grunde will der junge, innerlich offenbar tief verstörte Israeli ohnehin alles ablegen, was ihn mit seinem Heimatland verbindet – aber der Start ins Französischsein ist angesichts der winterlichen Temperaturen und fehlenden Heizung erst einmal vor allem eines: verdammt kalt.
Ein von bourgeoisem Ennui saturiertes junges Paar aus dem Haus rettet Yoav vor dem eisigen Tod in der Badewanne. Caroline und Emile geben ihm Geld, Essen, Kleidung und eine erste Gratis-Aufstockung seines Französisch-Vokabulars mit auf den Weg. Yoavs erster eigener Kauf: ein Wörterbuch. Er will Franzose werden, und zwar ganz und gar. Fortan läuft er wie ein Getriebener in einem lächerlichen senfgelben Wollmantel durch die Gegend, den Blick nach unten gesenkt, und murmelt geradezu manisch immer neue französische Wörter und Synonyme vor sich hin, um sie sich gut einzuprägen. Regisseur Nadav Lapid erzählt in SYNONYMES von der schwierigen Suche nach der eigenen Identität, von der Flucht aus einem Heimatland, das einen in den Wahnsinn treibt, und von dem Preis, den ein Fremder dafür zahlen muss, dazu gehören zu wollen.
Die Kamera fängt Yoavs gehetzte Stimmung ein, ist ihm dicht auf den Fersen, hat keine Zeit für Ruhepausen. Sein weniges Geld muss der junge Mann so streng einteilen, dass er monatelang dasselbe, billige Essen kocht – Nudeln mit Tomatensauce aus dem Discounter-Supermarkt. Diese radikale Selbstdisziplin scheint noch ein Überbleibsel seines Militärdienstes zu sein. Es liegt nahe, dass hier auch sein Trauma seinen Ursprung hat. Denn Yoav steckt voller absurder Geschichten aus dieser Zeit. Er erzählt sie dem schriftstellerisch ambitionierten Emile und hat auch nichts dagegen, dass dieser sie als Inspiration für sein Werk nutzt. Doch das freundschaftliche Dreiecksgefüge zwischen Yoav, Caroline und Emile ist fragil – und letztlich muss sich Yoav fragen, ob seine Geschichten und sein Körper ein exotistisches Begehren bei seinen Rettern befriedigen sollen, um ihre eigene innere Leere zu füllen.
Ebenso ambivalent ist jedoch Yoavs Kontakt zu anderen Israelis in Paris, die er, so gut es geht, meidet. Als Karikaturen des israelischen Hypermachismo gezeichnet, rühren diese Figuren einen dennoch an: Einer von ihnen ist besessen von der Idee, dass überall Antisemiten lauern, und setzt im Alltag alles daran, diese durch entsprechende Aktionen zu provozieren, sei es in der Metro oder in der Kneipe. Ein anderer verbringt seine Freizeit damit, sich in organisierten Kämpfen mit Rechtsradikalen bis aufs Blut zu prügeln. Die Terrorismus-Gefahr ist bei beiden zum Dreh- und Angelpunkt ihres Denkens geworden.
Ernst und bittere Komik halten sich in SYNONYMES gekonnt die Waage, sehr schnell findet der Film seinen eigenen Ton und überzeugt immer wieder mit einem eigenwilligen und oftmals erfrischenden Blick auf das scheinbar so vertraute Thema des Fremdseins. Eine Episode, in der Yoav als Aktmodell für einen Künstler/Pornoproduzenten sein Einkommen aufbessert, geht allerdings an die Grenze des Erträglichen. Der junge Mann soll offensichtlich Klischees bedienen, die sich im Kopf des Künstlers abspielen. Yoav muss aggressiv und wütend schauen, und schließlich soll er sich an seinen Penis fassen und den begleitenden „dirty talk“ auch auf Hebräisch liefern. Er, der es bisher konsequent abgelehnt hat, seine Muttersprache in Paris in den Mund zu nehmen, tut schließlich, wie ihm geheißen und steigert sich ob dieser Erniedrigung in eine wütende Schreitirade hinein. Ansonsten in seinem Spiel eher zurückhaltend, aber vielschichtig, überzeugt Tom Mercier als Yoav über den gesamten Film hinweg mit seiner schauspielerischen Nuancierung und körperlichen Präsenz.
Der Film stellt verschiedene Pathologien nationaler Identität gegeneinander und setzt diese in Bezug zu einer persönlichen Traumatisierung, die aber letztlich ebenfalls gesellschaftlich und politisch verankert ist. Nadav Lapid er schreckt auch nicht davor zurück, die blutrünstige DNA der nationalen französischen Identität – in der Marsellaise in Worte gegossen – daneben zu stellen. Können wir uns aussuchen, wer wir sind? Und was sagen die anderen dazu, zu denen wir gehören wollen? Wie sehen sie uns, können sie uns als Mensch wahrnehmen oder nur als Folie für ihre Projektionen? Die Antworten, die der Film nahelegt, sind ernüchternd.
Fotos: © Guy Ferrandis / SBS Films