Zwischen den Welten
Wie kann man ein so komplexes Land wie Indien verstehen? Wie kann man zumindest anfangen, es zu verstehen? Vor dieser Frage steht David, der Protagonist aus Udita Bhargavas Film DUST, ebenso wie die Regisseurin selbst. Der junge Deutsche begibt sich auf eine Spurensuche in Zentralindien – entlang den letzten Lebenszeichen seiner Ex-Freundin Mumtaz, einer aus Indien stammenden Fotografin, die kurz zuvor verstorben ist. An Malaria, wie es heißt.
Hinterlassen hat sie David ein letztes Foto. Es zeigt einen kleinen Jungen, der sein zerschundenes Gesicht in die Kamera hält, den Betrachter direkt anschaut. Und damit auch uns, denn dieses Bild ist das erste, das langsam in der Entwicklerflüssigkeit und zugleich auf der Leinwand Konturen gewinnt. Das Foto wird uns verfolgen, so, wie es David verfolgt. Der wiederum fühlt sich in der Heimat seiner Freundin unendlich elend und fremd, zunächst will ihm keiner bei seiner Suche helfen. Keiner versteht, was er, der "reiche Deutsche", hier zu suchen hat. Doch der junge Mann bleibt hartnäckig: Er will verstehen, was Mumtaz in dieser von brutalen Kämpfen zwischen maoistischen Guerillas und dem staatlichen Militär zerrissenen Region gesehen hat.
Udita Bhargava ist selbst in Indien geboren. Studiert hat sie an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Sie hat als Kameraassistentin, Fotografin und Postproduktionsassistentin zahlreiche Erfahrungen gesammelt, darunter bei Filmproduktionen etablierter Regisseure wie Danny Boyle, Mira Nair und Lars von Trier. Mit ihren Kurzfilmen hat sie bereits die Aufmerksamkeit der Filmbranche geweckt. DUST ist ihr erster Langfilm und Abschlussfilm an der Filmuni. Und tatsächlich: Der Film zeigt eine ganz eigene und stilsichere Handschrift.
Bhargava gelingt das Kunststück, in einer dezidiert filmspezifischen, poetischen Erzählweise eine komplizierte Realität greifbar zu machen, indem sie verschiedene Zeitebenen miteinander verwebt: „Ich hatte eigentlich die Intention, einen Film zu machen, der eine Art Zeitportrait meiner Heimat schafft. Aber je mehr ich dieser Idee nachging, desto klarer wurde es, dass Zukunft und Vergangenheit von der Gegenwart nicht getrennt werden können“, sagt sie. So taucht ein kleines Mädchen, das in den mehr als zehn Jahre zurück liegenden Kämpfen seine Heimat verliert, auf einmal in Davids Gegenwart wieder auf. Der kleine Junge auf dem Foto gerät in einem Lager für Kindersoldaten zwischen die Fronten. David spürt ihn auf, heftet sich an seine Fersen und sieht ihn zuletzt genau so, wie Mumtaz ihn Monate zuvor fotografiert hatte, mit frischen Wunden im Kindergesicht. „An dieser Stelle verbinden sich die Welten“, erklärt Bhargava, „David sieht den Jungen mit den Augen seiner verstorbenen Freundin Mumtaz.“
Die Zeit gehorcht in diesem Film ihren eigenen Regeln. Ein langsam aus der Entwicklungsflüssigkeit hervortretendes Foto, Spinnweben im Wind, ein Ventilator: In einzelnen Bildern verweilt die Zeit, hält inne, gibt uns Raum, das eben Gesehene wirken zu lassen. Erstaunlich ist: Die Vermischung von Raum und Zeit verwirrt weniger, als dass sie die Zusammenhänge auf einer tieferen Ebene verbindet und damit erhellt. Udita Bhargavas Herangehensweise beweist ein großes Vertrauen in ihre Zuschauer: „Die Situation ist wesentlich komplexer als der Film zeigen kann“, sagt die junge Regisseurin. „Also zeige ich Bruchstücke davon – die Erfahrungen meiner Charaktere. Hinterlassen die Charaktere einen prägenden Eindruck, werden sich die Zuschauer mit meiner Welt vertraut machen.“ DUST gibt uns jeden Grund dafür, das Gefühl von Fremdsein überwinden zu wollen.
Fotos: ©Philipp Meise / unafilm