Die Gefahr lauert überall. Zunächst natürlich im Weibe. Aber gerne auch in fernen, exotischen Ländern. Die Menschen dort haben nämlich ein böses Gift erfunden, das brave europäische Ärzte und Familienväter ruckzuck zu sabbernden Schatten ihrer selbst macht: das Opium. Wenn dann noch ein rachsüchtiger Chinese ins Spiel kommt, sollte man um das Glück der Menschheit bangen. So in etwa lässt sich die Quintessenz von Robert Reinerts Stummfilm OPIUM aus dem Jahr 1919 in ein paar Sätzen zusammenfassen. Doch nicht allein diese bemerkenswerte Verdrehung historischer Tatsachen, was das Opium und seine Verbreitung angeht, macht diesen Film für uns heute so spannend. OPIUM befremdet uns gleich in mehrfacher Hinsicht. So ist es absolut erhellend zu sehen, wie völlig selbstverständlich hier offen rassistische, stereotype Darstellungen des hinterlistigen Chinesen oder des treuen indischen Dieners auf die Leinwand gebracht wurden. Zudem wird hier die große Theatralik der Stummfilm-Ära nach allen Regeln der Kunst ausgespielt – große Gesten der Verzweiflung (einfacher Diadem-Griff, doppelter Diadem-Griff), hinterlistig gerollte Augen, vor Sehnsucht der Liebsten entgegengestreckte Arme. Wenn man sich darauf einlässt, hat das durchaus etwas für sich. Für das heutige Publikum ist das alles natürlich in erster Linie ein ernst zu nehmender Angriff auf das Zwerchfell.
Es gibt in OPIUM einige Kandidaten für die absurdeste Lieblings-Szene: Conrad Veidt als nach einem Reitunfall in Bandagen gehüllte Krankenbett-„Mumie“. Holde und äußerst spärlich bekleidete Nymphen aus den Opium-Träumen des geplagten Familienvaters, die von bockshörnigen, zotteligen Satyrn verfolgt werden. Verführerisch mit den Schleiern wedelnde indische Maiden. Und, am allerbesten: Irgendein Vollhonk hat für den in Indien spielenden Part doch tatsächlich den Schauplatz „Der Löwendschungel des Maharadscha“ ins Drehbuch geschrieben. Und das wurde dann allen Ernstes auch durchgezogen. Mit echten Löwen. Anscheinend gab es im Tierpark gerade einen akuten Tigermangel.
Es ist durchaus plausibel, in den dargestellten Halluzinationen eine Widerspiegelung der Erschütterungen und traumatischen Erlebnisse vieler Soldaten des Ersten Weltkriegs zu sehen, wie der Filmwissenschaftler Tobias Nagl schreibt. Aber in erster Linie wird „das Gift“ hier exotisiert und sexualisiert. Obwohl es sich bei OPIUM um eine recht aufwändige Produktion handelt, kommt der Film aus heutiger Sicht wie ein B- bis C-Movie der Stummfilmära daher. Die Chinesen und Inder, die im Film massenhaft gezeigt werden, wurden alle – bis auf wenige Ausnahmen – mittels zweifelhafter Fantasie-Kostüme und viel Schmiere im Gesicht chinoisiert beziehungsweise indisiert. Was die Tänzerinnen unter indischem Tanz verstehen, hat eindeutig mehr mit den einschlägigen Berliner Vergnügungsetablissements jener Zeit zu tun als mit echten Tempeltänzen. Aber dennoch, und vielleicht gerade deshalb: Für kurze Zeit in die rauschhafte Welt von OPIUM einzutauchen, lohnt sich allemal.
Quelle Fotos: Filmmuseum München