Von der Ohrfeige zur Stillen Nacht
Beeindruckend, beklemmend und großartig gespielt: Hans-Christian Schmid hat mit "Requiem" den mit Abstand besten deutschen Wettbewerbsbeitrag vorgelegt. Das Thema: Ein Fall von Exorzismus mit tödlichem Ausgang, der sich in der süddeutschen Provinz in den 70er Jahren mehr oder weniger tatsächlich so zugetragen hat. Aber vor allem geht es um Michaela: Eine empfindsame junge Frau, gespielt von der großartigen Sandra Hüller, die mit ausgeprägt starkem Willen versucht, ihren eigenen Weg zu finden: Zwischen tief empfundenem Glauben, erzkatholischer Familie und der ersehnten Befreiung aus dem kleinbürgerlichen Milieu durch das Studentenleben. Aber epileptische Anfälle und Wahnvorstellungen treiben Michaela zur Verzweiflung. Bald ist sie fest davon überzeugt, von Dämonen besessen zu sein.
Wo andere das Spektakuläre dieser Geschichte à la Emily Rose hervorgekehrt hätten, legt Schmid Wert darauf, den Zuschauern zu vermitteln, was diese junge Frau bewegt. Michaela ist eine Figur, die einem nicht wirklich nahe ist. Gläubigkeit, Wallfahrten, ein ständiger Spagat zwischen dem lustfeindlichen Elternhaus und der Aufbruchstimmung des Studentenlebens in der 70er Jahren in Tübingen – das sind keine Themen, die sich als Kassenknüller anbieten. Aber Schmid schaut genau hin: Auf die schroffe Mutter (Imogen Kogge), deren Lieblosigkeit als eine Mischung aus Verbitterung und Hilflosigkeit spürbar wird. Auf den Vater (Burghart Klaußner), der gerne verdrängen würde, welche Probleme seine Tochter wirklich hat, um ihr ein Stück Freiheit zu ermöglichen. Und natürlich auf Michaela selbst, die sich vom Elternhaus lösen will und mit einer so großen Kraftanstrengung versucht, auf eigenen Beinen zu stehen, dass es ihr irgendwann den Boden unter den Füßen wegreißt.
Sandra Hüller hat sich ganz auf die Gedankenwelt ihrer Figur eingelassen. Dass Michaela für einen Studienplatz betet, bringt sie genauso glaubwürdig auf die Leinwand wie die unglaubliche Anstrengung, mit der die junge Frau sich zwingt, ihr Studium durchzuziehen – schnell wird man die Bilder nicht vergessen von dem fahrigen, nervlichen Wrack, in das sie sich Schritt für Schritt verwandelt, während sie Tag und Nacht an einer Hausarbeit sitzt. Sie will funktionieren, das ist für sie existenziell wichtig. In anderen Momenten wiederum leuchtet sie geradezu: Die erste Party als Studentin, wo sie erst beim Stullenschneiden mit der ersten großen Liebe anbandelt und dann selbstvergessen im Diskolicht tanzt. Die rührende Unbeholfenheit nimmt man ihr genauso ab, wie den Sturkopf, den sie immer wieder zur Schau stellt.
Warum Michaela nicht zum Arzt geht, warum sie sich so sehr in die Idee der Besessenheit hineinsteigert: Das kann und will Schmid nicht analysieren, er führt uns aber so nah an die Figur heran, dass man es als Zuschauer ein Stück weit nachvollziehen kann. Requiem ist ein Film, der genaus hinsieht: Mit nie manieriert wirkenden Close-ups von Gesichtern und Händen. Mit gewagten Schnitten – etwa zwischen einer Ohrfeige von Mutter zu Tochter und dem "Stille Nacht, Heilige Nacht" am Weihnachtsabend in der Kirche.
Hans-Christian Schmid hat in der Pressekonferenz gesagt, es sei tragisch, dass Michaela von so vielen Menschen umgeben gewesen sei, die sie liebten, und trotzdem habe ihr keiner helfen können. Das erwachsene Menschen eine junge Frau einem Exorszismus-Ritual unteziehen, statt sie in die Psychiatrie einzuliefern, ist jedoch ein Schritt, der über hilflose Liebe weit hinausgeht. Werten, so denkt sich Schmid wohl, können die Zuschauer auch alleine.
Mit einer ambivalenten und in ihrer Art sehr radikalen Schlussszene verweigert Schmid zudem der Darstellung der Exorzismus-Rituale, die zu Michaelas Tod führen. Stattdessen lässt er sich ganz und gar auf Michaelas Empfindung der Dinge ein und gestattet es der jungen Frau, mit einem in sich ruhenden Lächeln einem tragischen Ende entgegen zu gehen.