Eine Frau rastet aus. Erst fliegt Geschirr und Essen an die Wand, dann wirft sich die grazile junge Frau wie ein Raubtier auf ihre Mutter. Mit Mühe nur kann sie von zwei erwachsenen Männern gebändigt werden. Sie reißt sich los, die Mutter versucht erst, sich hinter dem teuren Flügel zu verschanzen, dann hält sie plötzlich inne, blickt halb zärtlich, halb verächtlich auf ihr Kind und streichelt ihr die Wange. Offenbar die falsche Geste. Zack – eine heftige Ohrfeige wirft die Ältere fast um, sie knallt mit dem Kopf auf die Tastatur. Mit diesem Prolog ohne Ton und in Zeitlupe beginnt Ursula Meiers Wettbewerbsbeitrag LA LIGNE. Der Vorfall hat zur Folge, dass Margaret, die Tochter, für die nächsten drei Monate einen Abstand von hundert Meter zu ihrer Mutter Christina einhalten muss.
Diese Linie, von Margarets kleiner Schwester Marion mit blauer Farbe in einem Umkreis von hundert Metern um Christinas Haus auf Straßenbelag, Gras und Schotter gepinselt, markiert einen Schutzraum. Für diejenigen innerhalb des Kreises ebenso wie für Margaret. Der Gewaltausbruch war nicht ihr erster. Blaue Flecke und Platzwunden sind die äußeren Zeichen dafür. Die seelischen Verletzungen, die sie zuschlagen lassen, sind untrennbar mit der Hassliebe zu ihrer Mutter verknüpft. Erst als sie ihre kleine Schwester am Rand der blauen Linie bei ihren Gesangsübungen mit der Gitarre begleitet, beginnt sie einen Weg von außen nach innen und zu sich selbst zu finden.
Die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier dröselt diese Familienkonstellation im Laufe des Films allmählich auf: Christina, die gescheiterte Pianistin, nach dem Unfall auch noch mit geschädigtem Gehör geschlagen ("Wie eine Behinderte!"), ist sprunghaft, exzentrisch, charmant und grausam selbstbezogen – sie wirft ihren Kindern ihre eigene verpasste Karriere vor. Die älteste Tochter Margaret hat das musikalische Talent von der Mutter geerbt, aber in deren Augen nichts daraus gemacht. Die mittlere Schwester, unmusikalisch und pragmatisch, ist inzwischen selbst Familienmutter und die Stimme der Vernunft inmitten des Wahnsinns. Nachzüglerkind Marion wiederum versucht verzweifelt, zwischen der vergötterten Mutter und der geliebten Schwester zu vermitteln.
Das alles ist mit viel Liebe zu den Figuren erzählt, mit einer guten Balance aus Ernsthaftigkeit, Schwere, Leichtigkeit und Humor. Es gibt tolle Dialoge, wunderbare Bilder und schöne Einfälle, wie etwa die titelgebende blaue Linie. Und doch – irgendetwas fehlt dem Film. Er lässt einen festen inneren Kern vermissen, ein Kraftfeld, das ihn ganz fest zusammenhält und zu einem außergewöhnlichen filmischen Erlebnis macht. Ganz anders als der wunderbare Wettbewerbsbeitrag von Ursula Meier L’ENFANT D’EN HAUT aus dem Jahr 2012 oder auch ONDES DE CHOC, der 2018 im Panorama lief. Bei beiden, sehr unterschiedlichen Filmen, war man als Zuschauer gebannt, von der ersten bis zur letzten Minute.
Absolut sehenswert an LA LIGNE ist jedoch Valeria Bruni-Tedeschi. Ihre Christina ist charmant schusselig, und egoistisch, biestig und liebesbedürftig, dominant und entwaffnend komisch zugleich. Mit einem einzigen Blick sagt sie mehr über das Verhältnis von Mutter und Tochter, als mit Worten erklärt werden könnte. Stéphanie Blanchoud entwickelt als Margaret eine starke körperliche Präsenz, als verletzliches, lebendes Pulverfass, als "einsamer Cowboy" stapft sie durchs Leben und rennt immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand. Leider trägt die Sängerin und Schauspielerin den Film nicht ganz so, wie es diese schwierige Rolle erfordert. Benjamin Biolay hat eine schöne kleine Rolle als ihr Ex-Freund und musikalischer Partner, trotz der Trennung noch immer ein Fels in der Brandung. Einmal darf er sogar singen. Und Elli Spagnolo, die als Marion das erste Mal in ihren Leben vor der Kamera steht, macht ihre Sache als verzweifelter, mutiger, leicht ungelenker Teenager, der mit einer engelsgleichen Stimme gesegnet ist und unbeirrt für ihre Familie kämpft, sehr gut.
Nach all den dysfunktionalen Männern der ersten Wettbewerbsfilme ist LA LIGNE in jedem Fall ein erfrischend neuer Blick auf die Dramen, die das Leben bereithält.
Filmstills: 2022 BANDITA FILMS / LES FILMS DE PIERRE / LES FILMS DU FLEUVE / ARTE FRANCE CINEMA / RTS / RTBF (Télévision belge) / VOO et BE TV