Aufzeichnungen über Unsichtbare
Die meisten Filme handeln vom Leben. Sie kreieren fiktive Figuren und Situationen, die vielleicht ungewöhnlicher sind als das, was wir aus unserem Alltag kennen - aber in der Regel kann das Publikum das „gespielte Leben“ im Film nachvollziehen. Darin liegt ein wesentlicher Reiz des Kinos. Daneben gibt es eine kleinere Anzahl von Filmen, die sich mit Extremen beschäftigen: Dann geht es oft ums Überleben. Das Überleben ist das große Thema, aus dem zum Beispiel Action- und Kriegsfilme ihre Spannung ziehen. Die Emotionen, die in diesen Filme eine Rolle spielen, sind so grundlegend, dass es dem Publikum trotz der oft realitätsfernen Geschichten leicht fällt, sich mit den Protagonisten zu identifizieren. In dem Dokumentarfilm „Drifter“ zeigt Sebastian Heidinger etwas völlig Anderes: Den Alltag von Aileen (16), Angel (23) und Daniel (25), die in der Drogenszene des Berliner „Bahnhof Zoo“ im existenziellen Niemandsland zwischen Leben und Überleben treiben.Die drei Hauptfiguren driften rund um den Bahnhof Zoo. Aileen schminkt sich auf dem Bürgersteig. Angel, der sich als altkluger Veteran des Drogenstrichs inszeniert, putzt für ein bisschen Geld einen Toilettencontainer der Drogenhilfe und Daniel versucht rauszufinden, wo er jetzt am besten anschaffen kann, um an Geld zu kommen. Die Kamera ist immer ganz dicht dabei. So muss der Zuschauer am Unort „Bahnhof Zoo“ bleiben, den er als „Normalmensch“ nur noch als Transitraum für Ankunft und Abfahrt von S-Bahnen kennt. Schnell wird deutlich, dass der scheinbar ziellose Alltag durch gnadenlose Zwänge strukturiert ist: Durch Anschaffen Geld besorgen, Drogen kaufen, einen Schuss setzen und einen sicheren Platz für die Nacht finden. Darum geht es - jeden Tag wieder aufs Neue.
Überlebensnotwendigkeiten: Klamotten, Gel, Deo
Um dieser Lebens- und Überlebensnotwendigkeiten kreisen auch die Gespräche, meistens zwischen Aileen und Angel einerseits und Aileen und Daniel andererseits. Aileen schimpft über die „Kanaken“, ausländische Prostituierte die die Preise drücken. Angel gibt ihr gegenüber den Beschützer, erklärt ihr wie die Welt - also der Straßenstrich - funktioniert. Er hat die Welt im Griff, so vermittelt er anfangs durch sein Auftreten. Angel ist immer bemüht seinem Leben Struktur zugeben: Klamotten, Drogenutensilien und andere Habseligkeiten packt er akribisch in verschiedene Tüten. Im Supermarkt diskutiert er mit Aileen ausführlich die Wahl des richtigen Gels und des besten Deos. Er gelt seine Haare und frisiert sie exakt. Das sind die Momente, in denen die Grenzen zwischen dem Alltag eines „normalen Jugendlichen“ und einer vermeintlich so fernen Drogenwelt verschwimmen.Daniel ist in Aileen verliebt. Wenn sie beide einen Platz im Nachtasyl bekommen haben, macht er sich sorgen, dass sie nicht genug isst und kocht für sie. Er massiert sie gegen ihre Rückenschmerzen, deckt sie zu gibt ihr einen Gute-Nacht-Kuss. Aileen selbst hat die größten Probleme: Sie kann kaum noch Geld verdienen. „So Scheiße wie ich im Moment aussehe, würde ich mich auch nicht mitnehmen“, sagt sie sarkastisch. Außerdem geht es ihr körperlich immer schlechter. Die Kamera begleitet Aileen zum ärztlichen Sozialdienst: Die Ärztin versucht Blut abzunehmen. Das ist eine Tortur - für Aileen und die Zuschauer. „Nicht aus meinem Ballerarm“, bittet die Sechzehnjährige. Aber die Ärztin kann überhaupt keine Vene mehr finden, die nicht schon völlig vernarbt ist. Wie lange sie sich das mit dem Heroin noch antun wolle, fragt die Ärztin. Kraftlos erzählt Aileen von ihrem abgebrochenen Entzug.
Sebastian Heidinger gelingt es, die gewöhnliche und die ungewöhnliche Seite des Lebens von Aileen, Angel und Daniel einzufangen. Das schafft er, weil er gemeinsam mit seinem Team sorgfältig und vor allem einfühlsam gearbeitet hat. In den Monaten der Vorrecherche haben die Filmemacher mit einem VW-Bus in der Nähe des Zoos gestanden und den Obdachlosen dort Essen und Getränke angeboten. Von Anfang an haben sie dabei offen darüber gesprochen, dass sie Interessierte für einen Dokumentarfilm suchen und nicht etwa karitativ arbeiten: Diese Ehrlichkeit und die zeitintensive Arbeit zum Aufbau von Vertrauen wird von den drei Hauptmitwirkenden und vielen anderen mit Offenheit belohnt.
Leben mit einem lebensgefährlichen Problem
Der Zuschauer kann deshalb auf das Leben derjenigen blicken, die sonst seltsam unsichtbar bleiben, obwohl sie jeder in Berlin und anderen Großstädten sehen kann. Am Ende des Films ist eines klar: Die Jugendlichen leben zwar unter extremen Bedingungen: Sie übernachten in Behindertentoiletten oder müssen sich in den hypermodernen Münztoiletten einen Schuss setzen, weil sie keine anderen Rückzugsmöglichkeiten haben. Andererseits aber sind sie keine Untoten aus einer verruchten, romantisierten Drogenwelt. Den Mythos Droge zerstört der Film. Das Leben mit Drogen ist nichts weiter als das Leben mit einem manchmal lebensgefährlichen Problem.Diese Reduktion auf das Wesentliche macht den Film so überzeugend: Es geht nicht um Erklärungen, warum diese Jugendlichen Drogen nehmen. „Drifter“ verzichtet auf anmaßend psychologisierende Nachforschungen in den einzelnen Biographien ebenso wie auf die Diskussion von zukünftigen Lebensentwürfen. Der Film handelt von der Gegenwart, denn sie ist, was zählt. Der Film heischt nicht nach Mitleid, er dramatisiert oder bagatellisiert nicht. Viele Szenen, die die Normalität und Selbstzerstörung im Abstand von nur wenigen Sekunden zeigen, bleiben haften. So wie diese: Angel kocht für jemand, bei dem er schläft. Er kann das gut. Es gibt keinen Fertigfrass. Er paniert ein Schnitzel und brät es. Weichgeklopft hat er es mit einer Wodkaflasche.
zum Interview mit Regisseur Sebastian Heidinger
„Drifter“ läuft in der Perspektive Deutsches Kino am Sonnabend, 16. Februar, um 21:30 Uhr im Cinemaxx 3 und am Sonntag, 17. Februar, um 13 Uhr im Colosseum.
Kommentare ( 3 )
erstmal ein hallo
also ich finde was ich hier lese sehr anspruchsvoll und ja wollte eingtlich nur fragen ob es den film überall giebt
Posted by .... | 21.05.09 19:42
such den auch..son shit!
Posted by hallt | 19.04.10 01:21
mhhh...jetzt fällt mir ein...könnte sein das der schon mal auf ARTE lief.
Posted by ziffi | 19.04.10 01:23