festivalblog-Interview mit Sebastian Heidinger, Regisseur von "Drifter"

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Sebastian Heidinger ist Regisseur der Dokumentation „Drifter“ (Kamera: Henner Besuch). Der Film zeigt das Leben dreier Jugendlicher in der Drogenszene am Berliner „Bahnhof Zoo“. Heidinger studierte Film- und Fernsehregie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Der 29-jährige ist Gesellschafter der „Boekamp und Freunde Filmproduktion“. festivalblog.com sprach mit ihm über seinen Film „Drifter“, der am Sonnabend, 16. Februar, um 21:30 Uhr im Cinemaxx 3 und am Sonntag, 17. Februar, um 13 Uhr im Colosseum in der Sektion Perspektive Deutsches Kino gezeigt wird.

Warum hast Du das Thema gewählt und war es Dir von Anfang an klar, dass Du den Film in Berlin machen wolltest?

Es war klar, dass wir den Film in Berlin machen wollten, aber nicht dass es konkret um Junkies oder Stricher gehen sollte. Die Prämisse war relativ vage: Wir wollten einen Film über obdachlose Jugendliche in Berlin machen. Wir wollten nicht Punks oder Jugendliche portraitieren, die ihre Opposition so offen zeigen. Wir wollten Jugendliche finden, die quasi unsichtbar sind und in unserem Alltag nicht auffallen. Meiner Ansicht nach ist es heute für Menschen am Rand der Gesellschaft viel leichter, oberflächlich dazuzugehören. Man kann sich Markenklamotten anziehen oder besitzt ein Handy, doch die innerliche Entfremdung ist trotz dieser äußerlichen Annäherung viel stärker geworden. Es sind also unsichtbare Randgestalten unserer Gesellschaft.
Wir hatten dann eine sehr lange Vorlaufzeit und haben an verschiedenen Orten versucht, mit diesen Jugendlichen in Kontakt zu kommen, teilweise auch über Sozialarbeiter und Hilfsorganisationen. Die spannendsten Leute haben wir dann am Zoo gefunden. Es war nicht überraschend, dass auch Drogen eine Rolle spielten. Eine Droge wie Heroin erschwert die Arbeit aus filmischer Sicht, weil der Konsum natürlich sehr mit Stereotypen besetzt ist und alles andere sehr schnell Gefahr läuft in den Hintergrund zu rücken. Das gleiche galt auch für den Ort „Bahnhof Zoo“ und den Mythos, der damit verbunden ist.


Du meinst ein Vorurteil nach der Art, da will jemand „Christiane F.“ für das 21. Jahrhundert machen?

Eine Neuauflage dieses Themas hat mich anfangs nicht interessiert, sondern eher gestört, auch weil die Jugendlichen mit denen wir gesprochen haben, diesen Mythos kannten und ihn auch bedienen konnten. Sie wollten die „neuen Kinder vom Bahnhof Zoo“ darstellen. Im Lauf der Zeit haben sie dann gemerkt, dass uns diese Allüren nicht unbedingt interessieren. Während des Arbeitsprozesses haben wir dann gelernt, den zugrunde liegenden Mythos als Chance zu begreifen. Man konnte sich an etwas reiben, mit Klischees und dem Mythos brechen.


Wie lange hat der Prozess gedauert bis zum ersten Einsatz der Kamera mit diesen drei Hauptpersonen?

Wir haben drei Monate Vorlaufzeit gehabt. Wir waren jeden Tag mit einem VW-Bus, in den wir hinten eine Couch reingestellt haben, vor Ort und hatten etwas zu essen und Getränke dabei. Damit haben wir den Ort erst mal für uns eingenommen, damit wir selbst uns da nicht mehr so unwohl fühlen. Am Anfang ist man einfach ein Fremdkörper, ein Tourist. Uns war ziemlich schnell klar, dass Beharrlichkeit unsere wichtigste Tugend ist. Wir standen da und waren darauf angewiesen, dass die Jugendlichen uns langsam als Inventar akzeptieren und immer wieder zum Beispiel auf einen Tee vorbeikommen und uns etwas erzählen, weil sie uns spannend finden. Nur so hat sich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir Filmstudenten sind und einen Film machen wollen, auch dass wir keine Gagen zahlen können. Dass wir einfach Leute suchen, die Lust auf eine gemeinsame Dokumentation haben. Wir haben die Jugendlichen auch gefragt, was sie sich von so einem Film versprechen, wenn sie mitmachen. Irgendwann haben wir gefragt, ob wir zum Beispiel eine Geschichte, die sie erzählt haben, auf Ton aufnehmen könnten. Ein paar Wochen später haben wir auch Kamerainterviews gemacht. Am Zoo gibt es keine Privatsphäre, alles ist öffentlich, außer du bist in einer Toilette. Der Bus war erstmal ein geschützter Raum. Erst als das Vertrauen da war, sind wir dann auch nach draußen gegangen. Bis es soweit war, hat es etwa drei Monate gedauert.


Was haben die Jugendlichen auf die Frage geantwortet, warum sie mitmachen?

Aileen zum Beispiel hatte kurz vorher eine Therapie abgebrochen, bei der sie viele Probleme mit den Betreuern und den anderen Therapieteilnehmern hatte. Sie hat gesagt, sie wolle mitmachen, um den Leuten, „die immer so klug daherreden zu zeigen, wie es wirklich ist“, gerade in Bezug auf die Betreuer.


Du warst jetzt mehrere Monate ganz nah an den Jugendlichen dran. Wie nah, glaubst Du, bist Du mit dem Film an ihre Realität gekommen? Oder wolltest Du der Realität gar nicht so nah kommen, sondern bestimmte Elemente unterstreichen?

Oft verlässt man die Realität, um sich ihr auf Hinterwegen wieder anzunähern. Die filmische Arbeit ist natürlich manipulativ. Die Montage verdichtet und der zeitliche Ablauf ist bis zu einem gewissen Grad gestaltet. Aber nur so kann man auf einer filmischen Realitätsebene der Wirklichkeit näherkommen, wie wir sie beim Dreh gespürt und erfahren haben. Wir haben in dem Film auch so etwas wie einen Minimal-Plot – die Beziehung zwischen den Dreien – herausgearbeitet, denn den braucht man, damit die langen, beobachtenden Einstellungen getragen werden.


Wie stark hast Du da beim Dreh eingegriffen?

Ich habe schnell gemerkt, dass alles zusammenbricht, wenn man zu sehr forciert. Da musste ich meinen gestalterischen Willen auch zurücknehmen, in der Hinsicht war der Film auch eine Demutsübung. Ein Beispiel ist das Briefeschreiben zwischen Aileen und Daniel, nachdem Aileen nicht mehr in Berlin war. Wir haben nie gesagt: Schreib doch mal einen Brief. Aber wir haben dafür gesorgt, dass Papier und Stift da waren. Das hat Daniel darauf gebracht, einen Antwortbrief zu schreiben. Aber letzten Endes musste das von ihm kommen.


Die große Stärke des Films ist, dass er ganz ohne klassische Interviews auskommt. Hat sich das durch das Material erst im Schnitt ergeben oder hattest Du das von Anfang an so im Kopf?

Ich wollte auf jeden Fall einen szenischen Dokumentarfilm machen. Wo genau zwischen Fiktion und Dokument er sich bewegen sollte, das haben wir offen gelassen. Das hängt von den Hauptpersonen ab. Wenn Aileen und Daniel auf der Couch im Bus miteinander sprechen, gab es am Anfang vielleicht eine Frage, die dann einen Dialog zwischen den beiden angestoßen hat. Wir haben unglaublich viele Interviews als Back-up-Material gedreht, es gab auch viele Nebenfiguren usw. Das brauchten wir auch für uns, um die Zusammenhänge zu verstehen. Im ersten Rohschnitt gab es noch Interviews, die erklärenden Charakter hatten. Das war ein Ausdünnungsprozess. Wir wurden im Schnitt mutiger, haben das Material immer mehr verstanden. Wir haben gelernt, dass die Stärken des Materials in der Beobachtung liegen, nicht in der Auserzählung.


Der Film ist auch deshalb so interessant, weil er sich auf das Hier und Jetzt konzentriert und auf das psychologisierende Erforschen der Vergangenheit oder die Frage nach der Zukunft verzichtet.

Ich fände es auch anmaßend, in 80 oder 90 Minuten Schlüsselmomente einer Biographie ausfindig zu machen, sie rekonstruierend in eine Kausalkette zu bringen und dann zu sagen: aus den oder den Gründen ist jemand jetzt da, wo er ist. So wird man einem Menschen nicht gerecht. Es war für mich als Filmemacher aber wichtig, diesen Hintergrund zu kennen. Denn ich muss wissen, was ich im Film weglasse.
Ich vertraue der Rekonstruktion von biographischen Momenten als Erklärung nicht. Da sind ganz einfache Szenen oft aufschlussreicher. Wenn Angel auf beste Hausfrauenart ein Schnitzel zubereitet, dann spüre ich etwas von seiner Vergangenheit, dass er bei seiner Oma aufgewachsen ist oder was auch immer. Erzählen kann er mir ja alles mögliche. Ein Körper lügt nicht so leicht. Deshalb ist es immer aufschlussreich zu beobachten, wie jemand etwas tut, wie er seinen Arbeitsprozess gestaltet.


Das stimmt. Allein wenn man sieht, wie akribisch Angel seine Utensilien in seine Plastiktüten packt, versteht man, wie der funktioniert.

Wir haben auch die Dinge stark in den Fokus gerückt, die eine Verbindung zu unserer normalen Welt herstellen. In einem schleichenden Prozess wird dann klar: So groß ist der Unterschied zwischen einem Stricher und einem Gymnasiasten gar nicht: Das betrifft Aussehen, Hygiene, Ordentlichkeit aber auch die Art, wie man sich artikulieren kann. Damit geht der Film auch gegen die Dämonisierung von Randgruppen an. Man meint ja, man wüsste wie ein Stricher oder Junkie lebt. Da gibt es genügend Klischees. Deshalb dieser Blick auf Handlungen. Diese Szenen sind wichtig, weil der Zuschauer sieht: Da passiert etwas, was ich aus meinem Leben auch kenne. Zum Beispiel Sicherheit schaffen durch Ordnungsstrukturen, die man sich baut.


Gibt es denn trotzdem Zukunftsperspektiven in irgendeiner Form?

Es gibt sie nicht. Sie reden von Plänen, aber diese Zukunftspläne sind genauso fluktuierend wie die Menschen in dieser Szene. Wenn ich an das Gefühl der Drehphase zurückdenke, gab es nicht so was wie Zukunft. Natürlich gab es Punkte in diesem Zyklus aus Geldbeschaffen und Drogen, an denen sie gesagt haben „ich hab’ keinen Bock mehr auf diesen Scheiß, ich mache eine Therapie“, aber das war am nächsten Morgen schon wieder vergessen. Der alltägliche Druck lässt dich nur über die unmittelbar anstehenden Handlungen nachdenken.

Wie schwierig war es das Thema Drogen darzustellen? Konntest Du gleich mit der Kamera dabei bleiben, wenn sich jemand einen Schuss setzte?

Nein, absolut nicht. Das erste Konsumieren haben wir im letzten Drittel der Drehzeit gefilmt. Das ist wirklich schwierig zu drehen, ohne einen bloßen Voyeurismus zu bedienen. Wir hatten uns vorgenommen, den Vorgang möglichst neutral wie ein Arbeitsprotokoll zu filmen. Aber durch die Situation, dass wir plötzlich in dieser Münztoilette waren, in diesem Vakuum - die Musik, die Luft, die Enge und das Neonlicht - und dann zum ersten Mal zu sehen, wie sich jemand diesen Stoff in die Vene pumpt, das ist uns nahe gegangen. Mit dem Rohmaterial waren wir unzufrieden. Erst durch harte und selektive Schnitte in der Montage konnten wir zu einer Sachlichkeit zurückkommen - ohne das, was uns in dem Moment so angegangen hat, zu verheimlichen.


Wie hast Du Dich von diesem Projekt wieder gelöst?

So richtig gelöst habe ich mich noch nicht. Vor kurzem war ich bei Daniel und habe ihm den Film gezeigt. Es ist nicht mehr so intensiv, ich hänge nicht mehr jeden Tag am Zoo. Und natürlich kann ich den Kontakt nicht mehr so intensiv halten, wie während der Drehzeit. Wir haben ein Jahr geschnitten. In diesem Arbeitsprozess werden die Bilder dann zu Material und sind nicht mehr Teil deiner Realität. Mit Aileen versuche ich seit einem Jahr Kontakt aufzunehmen. Sie ist die einzige, die den Film noch nicht gesehen hat. Angel hat ihn gesehen und als gut empfunden und vor allem, dass wir die Menschen richtig getroffen haben. Als er sagte, „so war es“, war das ein Riesenkompliment.

Das Interview führte Steffen Wagner.

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Titel

Orignaltitel

Drifter

Credits

Regisseur

Sebastian Heidinger

Land

Flagge DeutschlandDeutschland

Jahr

2007

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