TABU von Miguel Gomes

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Bei einem Film gibt es immer zwei Belichtungsprozesse. Beim ersten Mal fällt das von der Umgebung reflektierte Licht auf Zelluloid oder auf einen Chip. Das zweite Mal fällt das Licht der Filmprojektion auf das Bewusstsein des Zuschauers. Durch die erste Belichtung entsteht eine klar definierte und technisch fassbare Abfolge von Hell und Dunkel. Bei der zweiten Belichtung können aus einem Werk mehrere Filme entstehen, die so zahlreich sind wie die Zuschauer des Werks.

TABU wird viele unterschiedliche Filme hervorbringen. Das liegt daran, dass die Regiearbeit von Miguel Gomes keine strikte Lesart vorgibt und ein Reservoir von Geschichten bereithält, aus dem man sich seine eigene zusammenstellen kann.

Wenn man zuvor nichts über TABU gelesen hat, dann dauert es eine ganze Weile, bis man ahnt, worauf der Film hinausläuft. Im Mittelpunkt steht zunächst die gerade pensionierte und alleinstehende Pilar. Sie lebt in Lissabon, ist streng gläubig, politisch aktiv und bemüht sich, das Gute zu tun. Neben ihr wohnt Aurora zusammen mit ihrem kapverdischen Dienstmädchen Santa. Aurora ist eine wunderliche alte Dame um die 80, die ihr Geld im Kasino verspielt und wenn sie ihre Antidepressiva nicht einnimmt, davon überzeugt ist, dass Santa sie mit ihrem Voodoo Zauber verhext. Während Pilar sich um den Zustand von Aurora zunehmend Sorge macht, ist Santa stoisch bis gleichgültig. Als Aurora ins Krankenhaus eingeliefert wird, sucht Pilar auf ihren Wunsch einen gewissen Gian Luca Ventura. Sie findet ihn in einem Altersheim. Wie sich herausstellt, verbindet Aurora und Gian Luca eine Geschichte, die über 50 Jahre zurückliegt.

Der erste Teil von TABU ist durchzogen von Schwermut und Melancholie. Jeder ist auf seine Art einsam und trägt in sich eine unausgesprochene Traurigkeit. Der zweite Teil ist so etwas wie eine Auflösung für den Ursprung der Schwermut, nicht nur die Schwermut der Figuren, sondern vielleicht auch die Schwermut der Portugiesen allgemein.

In einem Rückblick beginnt Ventura, von der verbotenen Liebe zwischen ihm und Aurora zu erzählen. Sie stammt aus der gemeinsamen Zeit in Mosambik zur Zeit der portugiesischen Kolonialherrschaft. Damals besaß Aurora ein Gut und war eine passionierte Grosswild-Jägerin. Gian Luca Ventura war ein Abenteurer, den es mal hierhin und mal dorthin verschlagen hat. Zwischen beiden entwickelt sich eine Leidenschaft, die sie auch dann nicht stoppen können, als Aurora von ihrem Mann ein Kind erwartet.

Noch interessanter als die Geschichte selbst ist die Art und Weise, wie sie erzählt wird. Man hört die Erzählstimme von Ventura aus dem Off, hinterlegt von Musik und Umgebungsgeräuschen. Man sieht die Figuren sprechen, hört sie aber nicht. Wie der ganze Film ist auch diese Passage in Schwarz-weiß. Es ist ein amüsantes und gelungenes Spiel mit den Erzählformen des Films. Auch wenn sich am Ende eine abgeschlossene Geschichte ergibt, entsteht durch die unübliche Stil-Kombination zusammen mit den vielen Metaphern des Films eine interessante Vieldeutigkeit.

Als ich nach dem Film an der U-Bahn-Haltestelle einen alten Bekannten treffe, liegt für ihn die Intention des Films auf der Hand. Die Liebesgeschichte stehe für die Kolonialzeit Portugals und die verbotene Liebe für Schuld des Kolonialismus. Es sei leider wieder einmal ein halbherziger Versuch die Kolonialzeit aufzuarbeiten und scheitere deshalb.

Zuvor im Kino scheinen die beiden Frauen neben mir dies anders wahrzunehmen. Sie konnten mit einem Film, der entgegen die Sehgewohnheiten projiziert, nichts anfangen. Durch mehrfaches Stöhnen machten sie darauf aufmerksam, dass sie sich ein Ende des Films herbeisehnten.

Ich erinnere mich auch an eine Kollegin, wie sie aus der Pressevorführung von TABU kam. Sie war sehr unschlüssig, was man aus diesem Wettbewerbsfilm machen sollte.

Obwohl Miguel Gomez Kommentare in der Pressekonferenz die Allegorie auf die Kolonialzeit untermauern, steht die gesellschaftspolitische Aussage nach meiner Ansicht nicht im Vordergrund. Für mich ist TABU ein Film über Schwermut und Sehnsucht nach etwas Verlorenem oder auch nach etwas, was man nie gehabt hat. Es ist ein Film über eine Liebe, dessen Unglück nie aufgelöst werden kann.

Am Ende kann man diesen Film, der so unterschiedliche Sichtweisen zulässt, eigentlich nur als Geschenk annehmen.

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Titel

Orignaltitel

Tabu

Credits

Regisseur

Miguel Gomes

Schauspieler

Carloto Cotta

Teresa Madruga

Ana Moreira

Laura Soveral

Land

Flagge DeutschlandDeutschland

Flagge GriechenlandGriechenland

Jahr

2011

Dauer

111 min.

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