Dreh bei Windstärke Sieben
Vor 15 Jahren ist vor der Küste von Windholm das Meer verschwunden und mit ihm alle Kinder des Ortes. Zwei junge Physiker aus Berlin machen sich auf, das geheimnisvolle Phänomen zu untersuchen. Dabei werden sie mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert. Regisseur Sebastian Hilger, Jahrgang 1984, hat an der Filmakademie Ludwigsburg studiert. WIR SIND DIE FLUT, ist sein Diplomfilm. Die Koproduktion der Anna Wendt Filmproduktion, der Filmakademie Baden-Württemberg, der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolff“ unter Beteiligung des rbb, wurde gefördert vom Medienboard Berlin-Brandenburg und entstand im Rahmen der rbb-Initiative LEUCHTSTOFF. Der Film läuft auf der Berlinale in der Perspektive Deutsches Kino. Tiziana Zugaro sprach kurz vor dem Festival mit Sebastian Hilger.
Tiziana Zugaro: Was war die Initialzündung für WIR SIND DIE FLUT?
Sebastian Hilger: Den Film habe ich gemeinsam mit der Autorin Nadine Gottmann entwickelt. Am Anfang war da nur ein Bild: das verschwundene Meer, ein unergründlicher Un-Raum. Dieses Bild hat uns nicht losgelassen. Die Frage war, wie wir dieses Bild in eine erzählbare Form gießen. Uns hat interessiert, was passiert, wenn das Meer – eine Art natürlicher Uhr – plötzlich stehen bleibt, jenseits der natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Das eröffnet einen ganz neuen Erzählraum: einen Raum, der von der normalen Welt abgekoppelt ist, aber trotzdem ganz viel mit uns selbst zu tun hat.
Der Ort Windholm wird im Film als trostlos und erstarrt gezeigt. Weil dort die Kinder fehlen?
Der Gedanke dabei war: Hier ist die Zeit stehen geblieben. Das Leben tritt seit 15 Jahren auf der Stelle. Dabei ist es keine realistische Darstellung einer Gesellschaft ohne Kinder, sondern der Versuch, diese Erstarrung auf emotionaler Ebene greifbar zu machen.
Diese Starre wird am Schluss aufgelöst. Was finden die Protagonisten am Ende – ein sorgenfreies Leben außerhalb der Zeit?
Der Film lässt das offen. Auf dem Meer, in diesem zeitlosen Raum, findet eine Art Utopie statt. Man kann hier Kind bleiben und sich ganz seinem Eskapismus hingeben. Dort draußen wird man aber auch von all den Dingen verschont, die das Leben eigentlich ausmachen. Micha, die Hauptfigur, tritt nach einem kurzen Ausflug in diese utopische Kapsel wieder in sein normales Leben ein. Er möchte den Fehler, den er einmal gemacht hat, wieder gut machen.
Micha trifft bei seinen Nachforschungen in Windholm auf ein Alter Ego seiner selbst – einen kleinen Jungen, der seit 15 Jahren in der zeitlosen Welt lebt. Was es mit dieser Dopplung auf sich hat, wird aber nie ganz aufgeklärt. Warum?
Die Reise nach Windholm ist für Micha auch eine Reise in sein Inneres. Dabei wird nie ganz klar, welche dieser Erlebnisse am Meer wirklich stattgefunden haben. Micha bekommt immer mehr das Gefühl, Teil der Geschichte von Windholm zu sein. Es gibt klare Überschneidungen seiner Figur mit dem kleinen Jungen, Matti. Zugleich sind die beiden aber auch gegensätzliche Figuren: Während Matti das Zeitloch öffnet, schließt Micha es wieder. Ist das nun ein innerer Prozess, der vor allem in Michas Kopf stattfindet, oder ist es Realität? Der Film lässt das offen. Und für mich ist das eine Stärke des Films. Allerdings gab es durchaus Diskussionen darüber, ob wir in diesem Punkt wirklich so unentschieden sein können.
Die innerlich versteinerten Menschen im Dorf sind dagegen sehr handfest in ihrer Trauer – und alle trauern auf unterschiedliche Weise.
Ja, Mattis Vater ist zum Beispiel völlig verkrustet und hat einen schützenden Panzer um sich herum aufgebaut. Die Gastwirtin hingegen sucht nach Kontakt zur Außenwelt und möchte sich gerne öffnen. Die Zimmervermieterin hat in ihrer Trauer völlig den Bezug zur Realität verloren. Aber alle scheinen wie überreife Früchte am Baum zu hängen und auf Erlösung zu warten. In der Tat gibt es ja bei dem Prozess der Trauer verschiedene Stadien – und davon haben wir uns inspirieren lassen. Den Dorfbewohnern gelingt am Ende der entscheidende Schritt, den Verlust anzunehmen.
Der Film legt sehr viel Wert auf die visuelle Ebene – der graue Himmel am Strand, die überwucherten Gebäude im Dorf: Das sind starke Eindrücke.
Das Visuelle muss dabei helfen, die Zuschauer in eine andere Welt mitzunehmen. Hier wird ein phantastischer Raum aufgebaut, und auf den muss man sich einlassen können. Dabei beginnt der Film relativ normal und wird dann immer surrealer, was sich auch in der Tonspur und der Musik widerspiegelt. Wir haben da viel Mühe reingesteckt und den Drehort sorgfältig ausgesucht. An der nördlichsten Spitze der nordfriesischen Insel Pellworm war es im Dezember mit Windstärke sieben schon sehr ungemütlich. Aber wir haben den großen produktionstechnischen Aufwand auf uns genommen, weil die Welt dort eben wirklich ganz anders aussieht.
WIR SIND DIE FLUT ist ein bisschen Sciencefiction, ein bisschen Drama und ein bisschen Gruselfilm. Wollten Sie sich bewusst nicht festlegen?
Wir haben ihn primär als Sciencefiction-Film gesehen, dann aber andere Elemente einfließen lassen, die für uns wichtig waren. Uns interessieren Sciencefiction-Filme, die eine fremdartige Folie auf die Welt legen, die dann aber doch ganz viel mit uns zu tun hat. Filme wie „Stalker“ oder auch „Die Wand“ waren eine Inspiration für uns – weil sie stark sind, ohne die Dinge restlos aufzuklären.
An WIR SIND DIE FLUT waren eine Menge Köche beteiligt. Wie hat diese Koproduktion funktioniert?
Wir haben etwas ganz Neues auf die Beine gestellt: eine Koproduktion zwischen den Filmhochschulen Ludwigsburg und Potsdam. Normalerweise bleibt man unter sich, und wir wollten die Schulen zusammenbringen. Die eine Hälfte der Diplomanden war aus Potsdam, die andere aus Ludwigsburg. Dort pflegt man ja sehr unterschiedliche Stile. Potsdam legt eher Wert auf politische Filme und eine gewisse Erzähltiefe, während Ludwigsburg visuell anspruchsvolle Unterhaltungsqualität produziert – und wir wollten eine Synthese aus beidem. Das hat dem Film unserer Meinung nach gut getan. Das rbb-Programm LEUCHTSTOFF beinhaltete eine redaktionelle Zusammenarbeit – der rbb hatte beratende Funktion bei der Drehbuchentwicklung und hat den Film mitfinanziert. Sie werden den Film auch im Fernsehen ausstrahlen.
Sind solche Kooperationen die Zukunft?
Das Interesse nach Hochschul-übergreifenden Kooperationen besteht auf jeden Fall! Das könnte Schule machen. Wenn man sich den deutschen Filmmarkt anschaut, sollte man zusammenhalten, um konkurrenzfähig zu bleiben, ganz egal ob man aus München, Hamburg oder Potsdam kommt. Die Projekte werden in der Zukunft sowieso internationaler.
Herr Hilger, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Tiziana Zugaro.
Fotograf Porträt Sebastian Hilger: Martin Ludwig