Der Film von Regisseur Tom Shoval ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Als Film ist er eine Meisterleistung, zugleich ein schmerzhaftes Zeitdokument über die Grauen des 7. Oktobers. An jenem Tag werden zahlreiche Gemeinden im Süden Israels angegriffen, verwüstet, niedergebrannt. Die Hamas ermordet 1.200 Menschen, viele weitere werden entführt. Besonders hart trifft es den Kibbuz Nir Oz.
Dort leben die Brüder Eitan und David Cunio. Eitan überlebt knapp, sein Bruder David und ein weiterer jüngerer Bruder werden von der Hamas entführt. Das allein wäre schon mehr als genug Stoff für einen Film, für eine Annäherung an das kaum zu fassende Leiden der Familie, den Schmerz, die Traumata, die Hoffnungen.
Doch die Vorgeschichte, die diesem Dokumentarfilm eine nochmal ganz andere Tiefe verleiht, die weit über die dramatischen Ereignisse des 7. Oktobers hinausgeht, ist eine andere: Denn die beiden Brüder waren die Hauptdarsteller in Toms Shovals Langfilmdebüt Youth, der 2013 auch auf der Berlinale lief. Michtav Le'David beginnt mit dem Casting für diesen Film: Verschiedene Brüderpaare, allesamt Laiendarsteller, erzählen von ihrer brüderlichen Beziehung. Tom Shoval sucht Brüder, die eine ganz besondere Verbindung haben. Als er Eitan und David sieht, weiß er sofort: Die sind es. Er sieht seinen Film klar vor sich. „Wo kommt ihr her?“ „Nir Oz.“ „Wo ist das denn?“ „Ach, ein ganz kleiner Ort, direkt neben dem Gazastreifen.“
Michtav Le'David zeigt viele Szenen aus Youth – ein Film, der sich, so sagt Shoval, durch die Ereignisse des 7. Oktobers komplett verändert hat. Tatsächlich ist nun fast jede Szene von dem Wissen über die Ereignisse um den 7. Oktober überlagert. Umso mehr, als in Youth mehrere Szenen vorkommen, die wie unheilvolle Vorboten wirken: Eitan und David sollen in ihrer Rolle eine junge Frau entführen, um Lösegeld zu erpressen. Tagelang proben sie für die Szene, üben wie man eine Geisel nimmt, wie man sie überwältigt; es klappt nicht so richtig, wirklich überzeugend können sie nicht brutal agieren, weil es ihrer Natur widerspricht. Und einer, der hier in die Rolle eines Entführers schlüpft, ist nun seit fast eineinhalb Jahren selber Geisel der Hamas. Auch seine Frau und seine Töchter wurden entführt, aber sie kamen im Rahmen eines ersten Abkommens frei. Die Zukunft des derzeitigen Waffenstillstands, mit dem auch David freikommen könnte, bleibt ungewiss.
Im Rahmen dieses Films entdeckte Shoval altes Filmmaterial, das als Vorbereitung für Youth entstand. Damals hatte er den Brüdern eine Kamera in die Hand gedrückt, damit sie ihr Leben im Kibbuz filmen. Doch der Amateurfilm, mit dem sich die beiden auf ihre Rollen vorbereiten sollten, wurde nie gesichtet – bis jetzt. Nun wirkt das Material wie ein Fenster in eine längst vergangene Welt: Das Kibbuz Nir Oz, mit seinen grünen Feldern und den lachenden Gemeindemitgliedern, existiert nicht mehr. Es ist heute eine rußgeschwärzte Ruine, ein Mahnmal des Horrors. Im Film tauchen mehrere enge Freunde der Brüder auf, die ermordet oder entführt wurden – darunter auch die Familie Bibas, die mit ihren beiden kleinen Kindern traurige Berühmtheit erlangt hat.
Der Regisseur spricht mit dem vom Trauma gezeichneten Bruder Eitan, besucht mit ihm den zerstörten Kibbuz. Wie alle Angehörigen sagt er, dass sein Leben seit dem 7. Oktober stillsteht. Wie seine Eltern hofft auch Eitan, dass David überlebt und zurückkehrt. Jeden Tag, immer wieder, stellt er sich den Moment vor, in dem er seinen Bruder wieder in die Arme schließen kann. Auf seltsame Weise endet auch Youth so: Die beiden Protagonisten ringen miteinander, umarmen sich, versöhnen sich. Jetzt muss sich die Wirklichkeit an diesen Plot anpassen.
Kommentare ( 1 )
Was ein Stoff. Hoffe nach diesen schrecklichen Runterzieher wieder was aufbauendes gesehen (oder getrunken).
Posted by christian | 16.02.25 14:06