Als die Regisseurin Martina Priessner vor fünf Jahren begann, DIE MÖLLNER BRIEFE zu drehen, hätte sie nicht gedacht, dass wir in Deutschland noch einmal an dem Punkt stehen würden, an dem wir uns heute befinden. Beim Publikumsgespräch nach der Vorführung des Films im Cubix 5 am Alexanderplatz verband sie ihre Worte mit einem dringenden Appell, am 23. Februar wählen zu gehen. Priessners Film macht deutlich, warum.
Der Berlinale-Panorama-Beitrag DIE MÖLLNER BRIEFE widmet sich einem ungeheuerlichen Vorgang: Nach den Mordanschlägen in Mölln durch Neonazis, in der Ratzeburger Straße 13 und der Mühlenstraße 9, erhielt die Stadt Mölln fast 1.000 Beileids- und Solidaritätsbekundungen aus ganz Deutschland. Sie waren zu 90 % an die Opferfamilien gerichtet. Der Haken: Die Stadt hat die Briefe nie weitergeleitet. 27 Jahre lang. Nur durch einen Zufall erfuhr Ibrahim Arslan, der als Kind aus den Flammen gerettet wurde, dass die Briefe die ganzen Jahre im Archiv der Stadt Mölln gelagert wurden.
Der Film zeigt Ibrahims hartnäckige Auseinandersetzung mit der Stadt Mölln und seine integrativen Bemühungen, die eigentlichen Opfer des Anschlags ins Zentrum des Gedenkens zu rücken. Unter den drei Todesopfern des Anschlags waren seine Schwester Yeliz Arslan und seine Großmutter Bahide Arslan. Sein Bruder Namik, damals erst acht Monate alt, wurde von seiner Mutter Hava Arslan aus dem Fenster des brennenden Hauses geworfen. Nachbarn fingen ihn mit einem Tuch auf.
Priessner gelingt, was in der Aufarbeitung ähnlicher Anschläge oft scheitert: Sie gibt den Opfern Raum. In aufwühlenden Szenen wird deutlich, wie tief das Trauma bei Ibrahim, seinem Bruder Namik, bei seiner nach dem Anschlag geborenen Schwester Yeliz (die den Namen der verstorbenen Schwester trägt) und vor allem seiner Mutter Hava Arslan sitzt. Priessner lässt sie erzählen, zeigt, was die Anschläge mit ihnen gemacht haben, aber auch, wie sie versuchen, sich daraus zu befreien.
Die zum Teil kooperativen Gespräche mit dem jetzigen Bürgermeister von Mölln und dem Stadtarchivar sind kühl und immer sehr förmlich. Sie machen deutlich, wo damals wie heute die Grenze zwischen dem "Wir" der Dominanzgesellschaft und dem "Ihr" der migrantischen Bevölkerung verläuft. Nicht zu Unrecht stellt eine Zuschauerin die Frage, ob die Briefe auch zurückgehalten worden wären, wenn die Opfer zur "Wir"-Gesellschaft gehört hätten.
Doch der Film gibt auch Hoffnung. In den eingeblendeten Briefe von damals können wir lesen, wie beschämt, solidarisch und mitfühlend Kinder, Jugendliche und Erwachsene an die Familie Arslan geschrieben haben. Die Hoffnung ist, dass solche Menschen, weiterhin eine Mehrheit bilden können und die Grenze zwischen dem "Wir" und dem "Ihr" überwinden.
Kommentare ( 1 )
Mich überrascht dieser Vorgang überhaupt nicht und ich kann mir nur wünschen, dass es diesem Film gelingt, unserer Gesellschaft, vor allem aber auch den bundesdeutschen Behörden dazu verhilft, dass dies und ähnliche Vorgänge sich nie wiederholen.
Gerade jetzt, in einer Zeit, wo man glaubt, mit Abschiebe-Orgien gewaltsame Übergriffe einzelner Geflüchteter zu verhindern!
Ibo und seiner Familie liebe Soligrüße!
Posted by Irmela Mensah-Schramm | 17.02.25 16:31