Berlinale 2025: KONTINENTAL ‘25 von Radu Jude

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© Filmstill aus Kontinental '25

Das transsilvanische Cluj ist eine echte Boomstadt. Immobilien sind ein lukratives Geschäft, die Altstadt wird radikal gentrifiziert, für die Schwachen in der Gesellschaft gibt es im neoliberalen Rumänien ohnehin nur ein extrem grobmaschiges soziales Netz. Als die Gerichtsvollzieherin Orsolya einen älteren Obdachlosen aus einem Keller vertreiben muss, bringt sich dieser auf grausame Weise um. Die daraus resultierenden Schuldgefühle werfen Orsolya gründlich aus der Bahn. Radu Judes Wettbewerbsbeitrag KONTINENTAL ‘25 zeigt Orsolyas Versuche, einen Weg aus ihrer moralischen Krise zu finden: absurd, tragisch und mit sehr viel bösem schwarzen Humor. Der Film ist eine Herausforderung, die auszuhalten sich lohnt.

Brüllende Dinos im Park

Roberto Rossellinis EUROPA ’51, ein neorealistisches Drama über die Schuldgefühle einer reichen Frau, hat Jude zu dem Filmtitel inspiriert und zur Einfachheit der technischen Mittel - KONTINENTAL ’25 wurde mit dem iPhone gedreht. Von Alfred Hitchcocks PSYCHO hat er sich den Trick abgeschaut, im Narrativ erst dem Opfer zu folgen, bevor er sich der eigentlichen Hauptfigur zuwendet.

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Und so sehen wir zunächst einen heruntergekommenen älteren Mann derb vor sich hin fluchend durch einen Park stolpern und Pfandgut einsammeln. Absurderweise wird er dabei von riesigen Plastik-Dinos „beobachtet“, die am Wegesrand stehen und in regelmäßigen Abständen losbrüllen und ihre Klauen schwingen. Später, wenn der Mann in der Stadt Geld und Essen schnorrt, an der Schnapsflasche hängt und in einen Briefkasten pinkelt – dabei ununterbrochen obszön schimpfend – ist er deutlich als störender Fremdkörper in der herausgeputzten Stadt zu erkennen. Auch hier setzt ihm ein künstliches Tier zu: Ein kleiner Roboterhund folgt ihm schwanzwedelnd, bis ihn der Alte völlig entnervt mit einem Fußtritt loswird. Radu-Jude-Veteran Gabriel Spahiu interpretiert diese Schlüsselrolle sehr mutig: überzeugend abstoßend und wenig Mitleid erregend.

Nach dem Selbstmord des Mannes folgen wir Orsolya - hervorragend rastlos verzweifelt: Eszter Tompa - für den Rest des Films. Die dreifache Mutter, Angehörige der ungarischen Minderheit im Land und ehemalige Professorin für Rechtsgeschichte, ist eine gutherzige Person mit sozialem Gewissen – aber auch sie muss im modernen Rumänien ihre Brötchen verdienen. Und die brutal agierende Immobilienfirma zahlt gut. Ihr tut „unendlich Leid“ (Orsolyas oft wiederholter O-Ton), was geschehen ist, „auch wenn sie rechtlich gesehen keine Schuld trägt“ (was ihr von außen immer wieder gesagt wird).

Vergebung ist nicht leicht zu bekommen

Doch Jura hilft in diesem Fall nicht weiter und Vergebung ist nicht leicht zu bekommen. Echtes Verständnis auch nicht. Der Ehemann findet nur belanglose Worte des Trostes und will dann bald Sex, die politisch korrekte beste Freundin erzählt ihre eigene Obdachlosen-Ekel-Geschichte und empfiehlt eine Spenden-App, mit der Mutter verstrickt sie sich in erhitzte politische Diskussionen, und ein lustiger Zen-Anekdoten-klopfender Ex-Student hat weniger geistige Weisheiten denn fleischliche Gelüste zu bieten. Der orthodoxe Priester schafft schließlich das grandiose Kunststück, Orsolyas moralische Zweifel bibeltreu glatt zu bürsten und dabei jegliches Mitleid mit den Schwachen auf der Welt als Sünde zu interpretieren. Sind wir alle Heuchler?

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© Filmstill aus Kontinental '25

Radu Jude hat 2021 mit BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN den Goldenen Bären auf der Berlinale gewonnen. KONTINENTAL ‘25 ist weniger überdreht, weniger rasant, aber mindestens genauso gut erzählt. Die einfach aber wirkungsvoll inszenierten Spielszenen wechseln sich mit Stills ab, die die Handlung kommentieren - Ansichten der gesichtslosen Neubauten in Cluj und Umgebung und anderer Spuren des Turbo-Kapitalismus im Stadtbild. Was die Dinos wohl dazu sagen würden? Nun, sie brüllen ja schon aus Leibeskräften.

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Titel

Orignaltitel

Kontinental '25

Credits

Regisseur

Radu Jude

Schauspieler

Gabriel Spahiu

Adonis Tanta

Eszter Tompa

Land

Flagge RumänienRumänien

Jahr

2025

Dauer

109 min.

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