Nah, ganz nah sind wir der Hauptfigur: einem sensiblen jungen Grundschullehrer, der an sich und der Welt zu zerbrechen droht. Die Kamera erforscht vorsichtig seine magere Gestalt, die wachen blauen Augen, das Lächeln, die langgliedrigen Hände, das Gesicht, das strahlend offen sein kann oder aus Angst und Wut zur Maske erstarrt. ARI heißt die Hauptfigur in dem Wettbewerbs-Beitrag der Französin Léonor Serraille, und so heißt auch der Film. Ari trägt die sanfte, stark machende Zuwendung seiner früh verstorbenen Mutter in sich, aber er schafft es selten, diese innere Kraft im turbulenten Schulalltag erfolgreich einzubringen. Es ist schwer, die quirligen Kinder bei der Stange zu halten, und allzu oft bricht das blanke Chaos über ihn und die Klasse herein. Bei einem Besuch der Schulinspektorin erleidet er einen Zusammenbruch und kündigt daraufhin seinen Job. Worauf der Vater ihn vor die Tür setzt. Nun muss sich der junge Mann auf die Suche machen – nach etwas in seinem Inneren, dass ihm hilft, zu leben.
Kein Ego-Trip sondern Austausch
Diese Suche führt ARI quer durch das winterliche Lille in Nordfrankreich zu verschiedenen Freundinnen und Freunden – und zurück in die Vergangenheit. Nach und nach wird klar: Vor drei Jahren ist Ari vor einer großen Verantwortung davongelaufen. Er hat Menschen enttäuscht und verletzt. Diese Lücke, diese Wunde, wird umkreist, angestupst, bricht auf, muss aufbrechen. Es wird viel gesprochen in diesem Film, aber nicht gelabert. Mit Fragen wie: „Was wünschst Du Dir vom Leben? Bist Du glücklich? Wie verbringst Du Deinen Tag?“ erkundet Ari seine Freunde und damit auch sich selbst. Die Freunde reagieren verwundert, bisweilen schroff und ablehnend auf seine sanfte Hartnäckigkeit, es kommt auch mal zum Streit. Aber Ari bleibt dran – und vermittelt in jedem Augenblick das aufrichtige Interesse an seinem Gegenüber. Hier geht nicht um den absoluten Selbsterkenntnis-Ego-Trip, sondern um Austausch. Und gerade deshalb bringt jede Begegnung ARI, die Figur und den Film, seinem Ziel näher – einen Weg für sich zu finden.
Ungewöhnlicher und starker Film im Wettbewerb
Nüchtern realistische Szenen mischen sich gekonnt mit anderen Erzählebenen: Texte aus dem Off, Aris Erinnerungen und Fantasien, übersetzt in traumhafte Bilder, Farben und Bewegungen, Möglichkeiten des Lebens, die erforscht werden wollen.
Auf 16mm-Film gedreht und mit Mitteln des Improvisationstheaters entwickelt, ist ARI ein ungewöhnlicher und starker Film im Wettbewerb: visuell, dramaturgisch und schauspielerisch. Die gesamte Cast ist sehr gut, Andranic Manet als Ari jedoch ist umwerfend: Er trägt den Film 88 Minuten lang durch alle Höhen und Tiefen. Regisseurin Léonor Serraille schafft es, Ari so nahe zu kommen, wie es nur irgend geht, und zugleich eine Distanz, zu wahren, die die Würde der Figur (wie auch aller Nebenfiguren) achtet. Ein Film, der künstlerisch überzeugt und zeigt, was Menschlichkeit im besten Sinne ist.