CROSSING EUROPE 2022: EUROPE von Philip Scheffner

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Zu Beginn von EUROPE blickt die Kamera aus einem Krankenhaus herab auf eine Bushaltestelle und einen Krankenwagen. Eine Frauenstimme sagt aus dem OFF: „Der Film hört nicht auf. Selbst wenn sie den Film verlässt, lebt sie immer noch das, was sie gespielt hat.“ Das sagt die Darstellerin Rhim Ibrir über die Figur Zohra – eine Frau algerische Frau, die seit Jahren in Jahren in Frankreich lebt und dort wegen einer schweren Wirbelsäulenerkankung behandelt wird. Nun hat sich ihre Gesundheit verbessert, es sind keine Operationen mehr notwendig. Diese gute Nachricht wird zur katastrophalen Botschaft, als der französische Staat Zohra die Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert.

Der Verlust des Aufenthaltsstatus ist für Zohra ein schwerer Einschnitt: Die Hoffnung, ihren Mann, der noch in Algerien lebt, nach Frankreich nachzuholen, ist zerplatzt. Auf einmal erscheint ihre Zukunft in Frankreich, wo ihre Mutter, Ihre Schwester, Ihre Freunde leben unmöglich. In diesem Moment verschwindet Zohra aus dem Bild von Philip Scheffners dokumentarischen Spielfilm. Menschen sprechen noch mit ihr, aber sie ist nicht zu sehen und antwortet auch nicht. Dann sind auch die Menschen in Zohras Leben verschwunden, allerdings nur vorübergehend, denn in Frankreich sind große Ferien. Zohras Verwandte fahren nach Algerien, ihre Kolleginnen sind im Urlaub. Die NGO, für die sie Altkleider sortiert, macht Betriebsferien. Das Wohnviertel in der Banlieue ist wie ausgestorben. Da taucht Zohra wieder im Bild auf. Sie kümmert sich um die Wohnungen der abwesenden Verwandten und beginnt, an der Fortsetzung ihrer Geschichte und ihres Lebens zu arbeiten. Auf dem Boden des Dokumentarischen beginnt eine weitere Fiktion. Aber auch diese Fiktion ist unvollständig: Jetzt ist Zohra im Bild, aber die Menschen, denen sie begegnet, zum Beispiel in einem Kleidergeschäft, sind aus dem Bild gerückt.

EUROPE erzählt eine dokumentarisch-fiktionale Geschichte nach einem Drehbuch von Merle Kröger und Philip Scheffner. Geschildert wird, was passiert, wenn der Aufenthaltsstatus das Leben von Menschen bestimmt. Im Amtsdeutsch gibt es übrigens den schönen Begriff der Fiktionsbescheinigung. Wenn die Aufenthaltserlaubnis eines Menschen ausläuft oder bevor eine Aufenthaltserlaubnis zum ersten Mal erteilt wird, wird eine sogenannte Fiktionsbescheinigung als fiktiv fortbestehender Aufenthaltstitel ausgestellt (Das ist wirklich so. Sowas kann man sich gar nicht ausdenken.). EUROPE ist also eine dokumentarische Fiktionsbescheinigung für Rhim/Zohra und ein bemerkenswerter Film darüber, wie Bürokratie in Europa mit Menschen umgeht.

Filmstill: pong film

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Titel

Orignaltitel

Europe

Credits

Regisseur

Philip Scheffner

Schauspieler

Sadya Bekkouche

Thomas Blanchard

Thierry Cantin

Didier Cuillierier

Rhim Ibrir

Zoulikha Ibrir

Laurence Masliah

Jane Resmond

Marwane Sabri

Hassane Ziani

Jahr

2022

Dauer

105 min.

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