Berlinale 2022: Der Wettbewerb

Ich kann mir nicht helfen. Ich habe einfach immer das Cover des Bananarama Hits „Robert de Niro’s waiting“ von Tocotronic und Fettes Brot im Ohr: "Nicolette Krebitz wartet - spricht italienisch...". Als der Song 1998 geschrieben wurde, war Nicolette Krebitz vor allem als Schauspielerin bekannt. Inzwischen hat sich Krebitz auch im Regiefach etabliert und 2016 in Sundance mit WILD einen viel beachteten Beitrag gezeigt. Sechs Jahre später ist sie nun mit A E I O U - DAS SCHNELLE ALPHABET DER LIEBE im Wettbewerb der Berlinale.

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© Reinhold Vorschneider / Komplizen Film


Sophie Rois gibt als ehemalige Schauspielerin Anna dem als Problemfall eingestuften Halbwüchsigen Adrian Sprechunterricht. Ihr zur Seite steht neben Milan Herman als Adrian auch die Eminenz des Independent Films Udo Kier. Auf der anderen Seite der Kamera befinden sich ebenfalls bekannte Namen. Maren Ade ist Co-produzentin und für den Schnitt zeigt sich Christoph Schlingensiefs ehemalige Lieblingscutterin Bettina Böhler verantwortlich.

Auf der Webseite von Komplizenfilm wird die Geschichte von A E I O U schön in drei kurzen Sätzen zusammengefasst:

"Sie dachte, das würde ihr nicht mehr passieren. Er wusste gar nicht, dass es so etwas überhaupt gibt. Eine Dame, ein Junge und noch eine unmögliche Liebesgeschichte."

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© Andreas Hoefer / Pandora Film

Im Gegensatz zu Nicolette Krebitz führte der Weg bei Andreas Dresen direkt zur Regie. Er stellt auf der Berlinale 2022 seinen immerhin 27. Langfilm vor. In RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH schildert Dresen, wie die Mutter des von 2002 bis 2006 in Guantanamo inhaftierten Murat Kurnaz für die Rechte ihres Sohnes kämpft. Gespielt wird Rabiye Kurnaz von der aus dem Fernsehen bekannten Comedien Meltem Kaptan.

27 Langfilme hört sich nach einer Menge an...aber ein anderer deutscher Regisseur hatte bis zu seinem 37. Lebensjahr bereits 41 Filme gedreht. Nicht auszudenken, was der 1982 viel zu früh verstorbene Rainer Werner Fassbinder bis heute noch alles seinem Ouevre hätte hinzufügen können. Aber auch so haben seine Werke immer noch einen großen Einfluss auf das Gegenwartskino. François Ozon eröffnet heute mit der Adaption von Fassbinders DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT die Berlinale. Bei Ozon wird aus der Modeschöpferin Petra der Regisseur Peter. Peter ist wie damals Petra ein Ergomane und verfällt der unglücklichen Liebschaft mit jemand viel Jüngerem. Entsprechend dem Wechsel der Geschlechter heißt der der Film bei Ozon PETER VON KANT.

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© C. Bethuel / FOZ

Die bereits auf den Filmstills erkennbare Ähnlichkeit zwischen der Filmfigur Peter von Kant, gespielt von Denis Menochet, mit Rainer Werner Fassbinder ist sicherlich kein Zufall. Neben Menochet sind auch der französische Filmstar Isabelle Adjani und Hanna Schygulla mit dabei. Letztere ist mit ihrem Namen wie kaum eine andere Schauspielerin fest mit dem Werk von Fassbinder verbunden.

Außer Ozon finden sich mit Hong Sangsoo und Claire Denis zwei weitere renommierte Regisseure des Arthouse Kinos im diesjährigen Wettbewerb. Sangsoo ist ein treuer Gast der Berlinale und zeigt seinen neuesten Film SO-SEOL-GA-UI YEONG-HWA (THE NOVELIST’S FILM). Das Widertreffen alter Bekannter steht im Zentrum des Films und wie bereits in vielen anderen von Sangsoos Filmen spielt Kim Minhee die weibliche Hauptrolle.

Claire Denis zeigt AVEC AMOUR ET ACHARMENT. Es ist eine Wiederauflage der Zusammenarbeit mit Christine Agnot als Co-Autorin und Juliette Binoche als Hauptdarstellerin. In der gleichen Konstellation hat sie bereits UN BEAU SOLEIL INTÉRIEUR (MEINE SCHÖNE INNERE SONNE) gemacht. Wie in Hong Sangsoos Film geht es auch hier um ein Wiedersehen, nur dieses Mal nicht zwischen alten Bekannten, sondern zwischen ehemaligen Liebhabern. Das bringt, wie so oft, stabil geglaubte Beziehungen ins Wanken.

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© 2021 Nord-Ouest Films, Arte France Cinema

Aus einem sehr privaten Blickwinkel erzählen auch Mikhaël Hers und Ursula Meier. In Mikhaël Hers LES PASSAGERS DE LA NUIT gibt Charlotte Gainsbourg als Elisabeth nach dem Zusammenbruch ihrer Ehe im Paris der 80er Jahre ihrem Leben eine neue Richtung und lernt, Risiken einzugehen. Ursula Meier, die vor zehn Jahren WINTERDIEB im Wettbewerb der Berlinale vorgestellt hat, zeigt in LA LIGNE, die Entwicklung einer problembelasteten Verbindung zwischen Mutter und Tochter.

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© Wilson Webb

Ähnlich wie bei Mikhaël Hers Film ist auch CALL JANE eine Geschichte der Befreiung, allerdings mit einem noch stärkerem gesellschaftlichem Bezug. Phyllis Nagi, die auch das Drehbuch zu Todd Hanyes CAROL geschrieben hat, schildert wie sich die Hausfrau und Mutter Joy mit Hilfe einer Gruppe anderer Frauen das Recht nimmt, selbst zu entscheiden, wie sie mit einer unerwarteten Schwangerschaft umgeht. In CALL JANE, der im letzten Monat bereits auf dem Sundance Festival gezeigt wurde, sind u.a. Elizabeth Banks als Joy und Sigourney Weaver als eine von Joys Unterstützerinnen zu sehen.

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© 2022 UNA NOCHE LA PELICULA A.I.E

Isaki Lacuesta verbindet in UN AÑO, UNA NOCHE ebenfalls das persönliche Schicksal mit dem gesellschaftspolitischen. Allerdings ist der Anlass noch dramatischer. Lacuesta schildert wie ein Paar, das den Anschlags auf die Diskothek Bataclan überlegt hat, versucht die Erlebnisse zu verarbeiten. UN AÑO, UNA NOCHE ist die Verfilmung des autobiographischen Roman PAZ, AMOR Y DEATH METAL des spanischen Bataclan Überlebenden Ramón González.

Auch in NANA geht es darum, wie einen die mit gesellschaftlichen Entwicklungen verwobene eigene Geschichte nicht loslässt. Die Hauptfigur Nana hat den gewaltsamen Putsch in Indonesien der 60er Jahre miterlebt. Auch jetzt, nachdem sie inzwischen in einem vermeintlich schönen Leben angekommen ist, tauchen immer wieder die Bilder einer leidvollen Vergangenheit auf. Regie führte die 35-jährige Kamila Andini, die mit ihren Filmen bereits zwei Mal in der Berlinale Sektion Generation zu Gast war.

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Einen etwas anderen Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse wirft der kambodschanische Dokumentarfilmer Rithy Panh in EVERYTHING WILL BE OK. In der Farce übernehmen Tiere die Herrschaft über den Planeten und stoßen beim Durchstöbern der Archive der Menschen auf deren Gräueltaten.

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© Armin Dierolf / hugofilm

Auffallend viele Filme im diesjährigen Wettbewerb widmen sich dem Landleben. In DRII WINTER von Michale Koch und YIN RU CHEN YAN von Li Ruijun finden jeweils zwei gegensätzliche Menschen in als Paar zueinander.

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© Hucheng No.7 Films Ltd.

Das eine Paar in einem Schweizer Alpendorf und das andere im ländlichen Nordwesten Chinas.

Das Landleben kann aber auch Abgründe offenbaren.

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© Visit Films

In Nathalia López Gallardos ROBE OF GEMS bezieht eine Frau mit ihrer Familie eine Villa auf dem mexikanischen Land. Sie kennt das Haus und die Umgebung, denn das Landgut ist seit langem in Familienbesitz. Doch die Zeiten haben sich geändert und jeder scheint auf irgendeine Art und Weise in kriminellen Machenschaften verstrickt zu sein.

Wie in ROBE OF GEMS zieht auch in ALCARRÀS eine Familie auf ihr Landgut. Allerdings ist dies Teil eines jeden Jahrs wiederkehrenden Rituals, denn das Landgut in Katalonien ist eine Pfirsichplantage und jeden Sommer wird geerntet. Die ungewissen Zukunft der Plantage bringt im Film der katalanischen Regisseurin Carla Simon die Konflikte zwischen den Familienmitgliedern zum Vorschein.

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© Lou Scamble / Metafilms

In UN ÉTÉ COMME ÇA von Denis Côté ist der Rückzug auf das Land Teil eines Experiments. Drei Frauen erkunden begleitet von einer Sozialarbeiterin und einer Therapeutin in einem Haus am See die Hintergründe für ihre Sexsucht. Dass sich die Konflikte in der Idylle harmonisch lösen, ist bei Denis Côté wohl weniger zu erwarten. Côté hat schon schon öfter mit seinen Filmen das Publikum verstört. Nachdem er auf der Berlinale 2012 mit BESTIAIRE erstmals eingeladen wurde, war Côté bereits mit vier weiteren Filmen bei der Berlinale, drei davon wurden im Wettbewerb gezeigt.

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Wie jedes Jahr stellt sich bei all den Wettbewerbsbeiträgen die große Frage, wer dieses Jahr den Goldenen Bären gewinnt. Vielleicht wieder Paolo Taviani? Vor zehn Jahren gewann der inzwischen 90-jährige Regisseur gemeinsam mit seinem Bruder Vittorio Taviani überraschend den Goldenen Bären für CESARE DEVE MORIRE (CAESAR MUST DIE). Nach dem Tod des Bruders vor vier Jahren ist LEONORA ADDIO der erste Film von Paolo Taviani ohne Vittorio. Bis dahin waren er und sein Bruder ein unzertrennliches Regie-Duo gewesen. Der Film ist, wie die Berlinale schreibt, ein bewegender Abschiedsgruß an Vittorio.

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