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A RIVER RUNS, TURNS, ERASES, REPLACES von Shengze Zhu (Berlinale 2021)

Flüsse sind Verkehrswege und Lebensadern. Kreuzungen in Städten sind Orte, an denen Menschen sich begegnen. Auch hier pulsiert normalerweise das Leben. Doch auf der Kreuzung, die Shengze Zhu zu Beginn ihres Films in langen Einstellungen mit unbewegter Kamera zeigt, ist nichts normal. Es sind kaum Menschen auf der Straße und die, die zu sehen sind, tragen Masken. Außer kleinen Transportmotorrädern, die ab und zu auftauchen und verschwinden, gibt es keinen Verkehr.

Wir sind in Wuhan. Die erste Aufnahme der Auftaktsequenz an der Kreuzung stammt vom 15. Februar 2020, die letzte vom 4. April um 10 Uhr. Mehr als drei Minuten verharren die wenigen Menschen und auch die Transportmotorräder. Die Motorräder hupen. Menschen filmen mit Handys – eine Gedenkminute. Dann ein harter Schnitt. Menschenmassen an einer breiten Flusspromenade. Sie bestaunen die Hochhäuser am gegenüberliegenden Ufer, die wie eine Leinwand für riesige LED-Farbspiele genutzt werden – wieder eine lange Einstellung. Dann erneut ein harter Schnitt: Bauarbeiten an einer Brückenbaustelle.
Nach dem Auftakt in der Stadt werden der Fluss, es ist der Jangtse, und die große Brücke, die gebaut wird, zu Hauptdarstellern von A RIVER RUNS, TURNS, ERASES, REPLACES.

Shengze Zhu arbeitet während des gesamten Films ohne Dialoge. Zwischendurch tauchen als Schrift Ausschnitte aus Briefen oder Nachrichten auf. Es sind Nachrichten an Verstorbene wie diese. „Ich hätte nie geglaubt, als ich 2017 in die USA ging, dass ich so lange nicht mehr nach Wuhan komme. Jetzt habe ich die neue Brücke gesehen, auf die Du so stolz warst. Wo bist Du? Du bist 32 Jahre mein Vater gewesen und ich habe nie darüber nachgedacht.“

Immer wieder taucht diese Brücke im Bild auf, mal spielen Hunde am Ufer unter ihr, mal wird sie zu einer Lichtinszenierung in einem Multimediakunstwerk. Die Brücke und der Jangtse sind immer da, um sie herum ändert sich alles. Der Film endet mit alten Fotos – wohl aus der Jugend der Menschen, die jetzt die Nachrichten erhalten. Es sind schwarz-weiß Bilder aus einer anderen Zeit. Man sieht es an der Kleidung, man sieht es an den Menschen selbst. Der Fluss im Hintergrund fließt wie immer.

Steffen Wagner,   02.03.21 12:06

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