Was soll man nach dem Schulabschluss bloß tun, wenn man irgendwo im Nirgendwo lebt: Gehen? Bleiben? Nicht so einfach zu entscheiden, wenn es für beides gute Gründe gibt. Die 27-jährige Potsdamerin Melanie Waelde hat mit NACKTE TIERE einen starken Spielfilm über die Unsicherheiten des Erwachsenwerdens auf dem Land gedreht. Auf der Berlinale läuft er in der Reihe „Encounters“, die für ästhetisch innovative und wegweisende Filme reserviert ist. Ein wahrer Ritterschlag also für eine so junge Regisseurin, zumal es sich um ihren ersten langen Spielfilm handelt. „Nackte Tiere“, so der Titel, ist ein intensives Porträt einer Clique Jugendlicher auf dem Land. Ganz nah ist der Film seinen Protagonisten, und hält doch respektvollen Abstand.
Dieser Abstand wird unter anderem dadurch gewährleistet, dass der Film nichts „toterklärt“. Manche Dinge bleiben unausgesprochen, im Ungenauen. Das tut dem Film gut und bringt die Zuschauer zum Nachdenken. Die Hauptfigur, Katja, ist eine starke Persönlichkeit: Klar, entschieden, bisweilen knallhart. Und doch blitzt bei ihr eine Verletzlichkeit durch, die nicht erklärt wird, aber deshalb umso intensiver wirkt. Sind sie und Sascha ein „richtiges“ Paar? Waren sie es mal? Mag sie eigentlich lieber Frauen, hat aber keine Lust darauf, sich erklären zu müssen? Das alles sind Fragen, die sich bei der ganz großartig von Marie Tragousti gespielten Hauptfigur anbieten – und es ist wunderbar, dass diese Fragen eine ganze Welt an Möglichkeiten aufmachen.
Katja wohnt in einer Plattenbauwohnung, die sie mal mit dem einen, mal mit dem anderen Kumpel teilt. Eltern sind weitestgehend abwesend in der Welt dieser jungen Menschen. Aber so etwas wie elterliche Fürsorge wird dennoch gebraucht: von Benny etwa, dem nach außen hin Sensibelsten, Verletztlichsten der Gruppe. Ein „Nacktes Tier“: wild, roh, verletzlich. Fast schon komisch mutet es da an, dass Bennys Haustier ein kuscheliges Kaninchen mit Hängeohren ist. Benny hängt sich in all seiner Bedürftigkeit an Katja, die das mal zulässt, der das dann aber auch schnell wieder zu eng wird. Als Benny irgendwann einfach verschwunden ist, führt das zu einem krassen Bruch, den die Clique verdauen muss, ohne dass dabei viele Worte über das Warum und Wieso gemacht werden. Genauso wenig wird die offenkundige Absurdität des Titels erklärt: Nackte Tiere? Sind die denn nicht immer nackt oder eben eigentlich gar nicht?
Wild und roh geht es auch beim Kampfsport-Training zu, das Katja mit Leidenschaft und höchstem Einsatz absolviert. Ganz nah ist die Kamera da den keuchenden, schwitzenden Leibern, ihrem Schmerz, ihrer Erschöpfung – und der Euphorie, die sich nach dem Training einstellt. Nirgendwo werden Regeln so fraglos akzeptiert wie im Sport, sagt die Regisseurin im Gespräch – und weil das so ist, das liegt zumindest nahe, ist das Strukturierende am Sport auch so wichtig für junge Menschen. Immerzu testen sie ihre Grenzen aus. Im Sport tun sie das auch – aber zugleich herrschen hier Regeln, die durch ihre Verbindlichkeit einen verlässlichen Halt geben können, und dem Leben eine Struktur.
Was Katja im Innersten bewegt, offenbart sich nicht in Gesprächen – sie vermittelt diese Konflikte über ihren Körper. Das kann schon mal bis über die Schmerzgrenze hinausgehen und in die Notaufnahme führen. Und dort kann man dann nicht mehr davonlaufen vor den großen Fragen: ob man am Ende der Welt bleiben will oder nicht, zum Beispiel. „Ich kann hier nicht weg“, sagt Sascha. Und nach einer langen Pause entgegnet Katja: „Ich kann nicht bleiben“.
Melanie Waelde selbst ist sehr früh „gegangen“: Mit 17 zog sie aus ihrer kleinen bayerischen Heimatstadt nach Potsdam, um dort das Filmgymnasium zu besuchen. Es folgte ein Drehbuch-Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). Sie wusste schon sehr früh, was sie machen wollte und hat es durchgezogen. „Ich glaube, man ist nie wieder so stark wie mit 17“, sagt Waelde. Stark sind auch ihre Protagonisten. Auch wenn sie es auf eine ungewohnte, überraschende Art und Weise sind.
Fotos: ©Czar Film